Gefahrengut Rollstuhl?
Der Fall
Frau S. hat in Südfrankreich eine Freundin besucht und fliegt nun zurück. Sie ist schwerbehindert und nutzt einen mit einem Akku betriebenen Rollstuhl, den sie, wie von der Fluggesellschaft vorgeschrieben, vor dem Flug angemeldet hat und genehmigen ließ. Bis Frankfurt verläuft die Rückreise problemlos, doch für die letzte Teilstrecke von Frankfurt nach Berlin verweigert der Pilot die Beförderung. Der Rollstuhl sei wegen der darin verbauten Batterien als Gefahrengut einzustufen und dürfe deshalb nicht im Frachtraum befördert werden, so seine Begründung.
Die offizielle Genehmigung überzeugt ihn nicht, sodass Frau S. nicht mitreisen darf. Stattdessen wird sie auf einen Flug am nächsten Morgen umgebucht und ohne Koffer und ihre darin befindlichen notwendigen Medikamente in einem nicht barrierefreien Hotelzimmer untergebracht. Auch am nächsten Morgen kann Frau S. nur nach erneuten Diskussionen ihren Rollstuhl mitnehmen und den Flug nach Berlin antreten. Die Beförderungsverweigerung und die Übernachtung im Hotel empfindet Frau S. als entwürdigend. Aufgrund der fehlenden Medikamente und der nicht barrierefreien Unterbringung erleidet sie zudem länger anhaltende Muskel- und Nervenschmerzen.
Mit der Bitte um Beratung und Unterstützung wendet sich Frau S. an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Einordnung/Einschätzung
Regelmäßig stehen Menschen mit Behinderung im öffentlichen Personenverkehr vor Barrieren, wodurch die selbstbestimmte Teilhabe am Leben erheblich erschwert wird. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet Benachteiligungen wegen einer Behinderung im Rahmen sogenannter Massengeschäfte (§ 19 Absatz 1 Nr. 1 AGG). Dazu gehören grundsätzlich auch Beförderungsverträge im öffentlichen Personenverkehr mit Beförderungsunternehmen wie Fluggesellschaften, Bahn – und Busunternehmen.
Dieser Schutz des AGG gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Eine Ungleichbehandlung kann unter Umständen durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein. Die Fluggesellschaft stellt sich auf den Standpunkt, dass die Entscheidung des Piloten aus Sicherheitsgründen gerechtfertigt gewesen sei. Diese Einschätzung konnte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes nicht nachvollziehen. In den Transportbedingungen zu Rollstuhlbatterien der Fluggesellschaft ist eindeutig geregelt, dass Rollstühle mit auslaufsicheren Lithium-Ionen-Batterien als Aufgabegepäck transportiert werden können.
Frau S. hatte den Transport im Vorfeld gemäß der Transportbedingungen angemeldet. Der Transport wurde von der Fluggesellschaft für die gesamte Hin- und Rückreise selbst genehmigt. Trotz Vorlage der Genehmigung setzte sich der Pilot über die Transportbedingungen eigenmächtig hinweg. Des Weiteren argumentierte die Fluggesellschaft, dass die Entscheidung des Piloten keinesfalls mit Diskriminierungsabsicht erfolgte. An dieser Stelle ist deutlich hervorzuheben, dass es für eine Benachteiligung im Sinne des AGG nicht darauf ankommt, dass diese vorsätzlich oder in böswilliger Absicht geschieht. Entscheidend sind vielmehr die nachteiligen Folgen, die für die Betroffenen durch die Ungleichbehandlung entstehen.
Im Falle einer ungerechtfertigten Benachteiligung wegen der Behinderung, können Betroffene Schadens- und/oder Entschädigungsansprüche zustehen, welche innerhalb einer Frist von zwei Monaten gegenüber dem*der Vertragspartner*in geltend gemacht werden müssen (§ 21 Absatz 1, Absatz 2 und Absatz 5 AGG).
Ergebnis
Nach einer ersten rechtlichen Einschätzung holte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit dem Einverständnis von Frau S. eine Stellungnahme bei der Fluggesellschaft mit dem Ziel einer gütlichen Einigung ein. Nachdem Frau S. zunächst ein für sie unzureichendes Angebot zur Wiedergutmachung ablehnte, konnte in Zusammenarbeit mit der parallel eingeschalteten Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (söp) eine Kompensationszahlung in Höhe von 2.000 Euro erreicht werden. Diese akzeptierte Frau S. als Entschädigung für die Diskriminierungserfahrung.
Zu den Kernaufgaben der söp gehört die außergerichtliche Streitbeilegung zwischen Reisenden und den jeweiligen Transportunternehmen im öffentlichen Personenverkehr. Dabei kann die söp im Gegensatz zur Antidiskriminierungsstelle des Bundes verbindliche Schlichtungssprüche aussprechen. Da in der Regel im öffentlichen Personenverkehr auch das AGG Anwendung findet, überschneiden sich die Zuständigkeiten der beiden Stellen in diesem Bereich. Der Fall zeigt auf, wie die Expertise der Antidiskriminierungsstelle des Bundes sowie die weitergehenden Handlungsmöglichkeiten der söp gemeinsam genutzt werden können, um Diskriminierung im öffentlichen Personenverkehr effektiv entgegenzutreten.