Stellen Sie sich nicht so an, Sie sind schließlich mitgemeint!
Der Fall
Mischa K. ist inter*. Das bedeutet, dass Mischa im Hinblick auf das Geschlecht nicht eindeutig einer der medizinischen „Normkategorien“ eines entweder „männlichen“ oder „weiblichen“ Körpers zugeordnet werden kann. Mischa möchte nicht mit „Herr“ oder „Frau“ angesprochen werden. Für das private und berufliche Umfeld ist das kein Problem. Familie, Freund*innen und Arbeitskolleg*innen sprechen Mischa mit dem Namen an. Auch im Personenstandsregister ist das Geschlecht von Mischa nicht mit „weiblich“ oder „männlich“ angegeben, sondern mit „divers“.
Doch wenn Mischa etwas im Internet bestellen möchte, gibt es immer wieder Hürden. Denn bei vielen Online-Versandhäusern ist es notwendig, eine von zwei vorgegebenen Anreden auszuwählen („Frau“/“Herr“), um den Bestellvorgang abzuschließen. Auch die darauffolgende Kommunikation läuft anhand dieser Anreden. Für Mischa stellt das ein Problem dar, trifft doch keine dieser beiden Optionen zu. Als Mischa ein Online-Versandhaus darauf aufmerksam macht, antwortet dieses nur, dass das Bestellsystem derzeit nur diese zwei Anreden ermögliche. Ein Freilassen der Anrede oder eine geschlechtsneutrale Anrede seien aus technischen Gründen nicht möglich.
Mischa möchte wissen, ob es sich hierbei um Diskriminierung handelt und wendet sich daher an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit der Bitte um Beratung.
Rechtliche Einordnung
Das Bundesverfassungsgericht hat 2017 klar geurteilt, dass das Allgemeine Persönlichkeitsrecht auch die geschlechtliche Identität jener Personen schütze, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind. In der Entscheidung legte das Gericht dar, dass Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen ließen, sowohl in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht als auch in ihrem Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Artikel 3 des Grundgesetzes verletzt seien, wenn das Personenstandsgesetz keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulasse (Beschluss vom 10. Oktober, Aktenzeichen: 1 BvR 2019/16). Geklagt hatte eine inter* Person. Das Bundesverfassungsgericht gab in seiner Entscheidung daraufhin dem Deutschen Bundestag auf, die Möglichkeit für inter* Personen zu schaffen, ihr Geschlecht mit „divers“ im Personenstandsregister eintragen zu lassen. Der Bundestag setzte dies mit dem „Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben“ vom 18. Dezember 2018 um.
Aufgrund der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spricht vieles dafür, dass inter* Personen aus ihrem grundrechtlich garantierten Allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch ein Recht auf die korrekte Anrede ableiten können. Denn wenn ihnen eine Eintragung im Personenstandsregister als „divers“ ohne Zuordnung zu den binären Geschlechtern „männlich“ und „weiblich“ möglich ist, so müssen sie auch einen Anspruch auf entsprechende Anrede haben.
Dabei ist zu beachten, dass die Grundrechte nur im Verhältnis Staat – Bürger*innen unmittelbare Anwendung finden und sich entsprechend auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zunächst nur auf dieses Verhältnis beziehen, nicht hingegen auf das Verhältnis zwischen Privaten. Dennoch müssen auch im privaten Rechtverkehr grundsätzlich die Grundrechte jedenfalls indirekt Beachtung finden, sodass hier nichts wesentlich anderes gelten kann (sog. Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte).
So entschied auch kürzlich das Landgericht Frankfurt a. M. zugunsten einer nicht-binären Person (Urteil vom 3. Dezember 2020, Aktenzeichen: 2-13 O 131/20). Diese könne aus ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht einen Anspruch gegenüber einem Eisenbahnunternehmen ableiten, bei der Nutzung des Angebots nicht zwischen einer männlichen oder weiblichen Anrede wählen zu müssen. Vielmehr müsse die Wahlmöglichkeit einer geschlechtsneutralen Anrede bestehen. Auch in der Kommunikation mit der klagenden Person und bei Speicherung ihrer Daten sei eine Bezeichnung als „Herr“ oder „Frau“ zu unterlassen – und dies unabhängig davon, ob die betroffene Person ihren Personenstand formal geändert habe oder nicht. Insbesondere sei nicht ersichtlich, wozu das Unternehmen die Zuordnung „Herr“ oder „Frau“ benötige, denn das Geschlecht der Kund*innen sei für die Dienstleistung völlig unerheblich. Es bestehe die einfache Möglichkeit, eine Anrede über die Grußformel „Guten Tag“ zu schaffen oder auf eine geschlechtsspezifische Anrede gänzlich zu verzichten. Eine finanzielle Entschädigung gestand das Landgericht der klagenden Person jedoch nicht zu, da es insbesondere keinen Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) erkennen konnte. Da die klagende Person so wie alle anderen auch einen Vertrag abschließen konnte, sei sie nicht im Sinne des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbot gemäß § 19 AGG benachteiligt worden. Dies lässt sich jedoch rechtlich durchaus auch anders beurteilen. Daher hat die klagende Person auch gegen das Urteil des Landgerichts Berufung eingelegt; das Ergebnis bleibt abzuwarten.
Ergebnis/Beilegung
Im Fall von Mischa K. wandte sich die Antidiskriminierungsstelle an das Online-Versandhaus und schilderte diesem die Problematik. Insbesondere wies sie darauf hin, dass inter* Personen aus ihrem grundrechtlich garantierten Allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen Anspruch auf Anrede entsprechend ihres Geschlechts bzw. ihrer Geschlechtsidentität haben.
Das Online-Versandhaus zeigte Einsicht und stellt daraufhin sein System um, sodass Mischa K. dort nun auch einkaufen kann, ohne mit „Herr“ oder “Frau“ angesprochen zu werden.