Navigation und Service

Angemessene Vorkehrungen

als Diskriminierungsdimension im Recht.
Menschenrechtliche Forderungen an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz

- Steckbrief zum Rechtsgutachten -

Autor*innen: Prof. Dr. Dr. h. c. Eberhard Eichenhofer, im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) Erscheinungsjahr: 2018

Kurzüberblick

„Angemessene Vorkehrungen“ erfüllen in der UN-BRK eine zentrale Rolle. Jede Diskriminierung aufgrund einer Behinderung ist darin untersagt. Dieses Verbot gebietet zum einen Unterlassungen und ist zum anderen eine Handlungsverpflichtung. Angemessene Vorkehrungen sind Handlungen zur Abwendung von Diskriminierungen wegen einer Behinderung. Definiert werden diese in Art. 2 II UN-BRK als „notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem besonderen Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichwertig mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen und ausüben können“.

Das Rechtsgutachten geht der Frage nach, was daraus für das Völker-, Europa- und das deutsche Recht folgt.

Wichtigste Ergebnisse

Handlungspflicht nach UN-BRK und europäischem Recht

Angemessene Vorkehrungen sollen Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen unterbinden. UN-BRK und europäisches Recht verpflichten die Staaten, wie deren Rechtsordnungen, Gesellschaften, öffentliche Einrichtungen und Private zu deren Schaffung. Diese Pflicht zeigt, dass sich das Verbot der Diskriminierung von Menschen mit einer Behinderung nicht in Unterlassungspflichten erschöpft, sondern konkrete Handlungspflichten begründet.

Zum Begriff der angemessenen Vorkehrungen in der deutschen und angelsächsischen Rechtslandschaft

Das deutsche Recht kennt angemessene Vorkehrungen als eigenständigen Rechtsbegriff nicht; allerdings begründen einzelne in AGG, SGB V und IX enthaltene Bestimmungen einzelne Pflichten bei der gesundheitlichen Versorgung, Arbeit, Bildung und anderen Formen sozialer Teilhabe, welche insgesamt der Schaffung angemessener Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung dienen.

Der Begriff „angemessene Vorkehrungen“ geht auf das angelsächsische Gleichbehandlungsrecht zurück. In den USA wurde er anfangs der 1970er Jahre als „reasonable accomodation“ eingeführt; im Vereinigten Königreich ist der Begriff „reasonable adjustment“ geläufig. In beiden Rechtsordnungen soll damit die nach dem Gleichbehandlungsrecht geforderten Maßnahmen zum Ausgleich einer Benachteiligung auf Grund einer Behinderung oder der Religion im Arbeitsleben umschrieben werden.

Angemessene Vorkehrungen zielen auf Inklusion

Der Begriff erklärt sich aus den Zwecken des Gleichbehandlungsrechts, allen Menschen mit einer Behinderung die selbstbestimmte, gleichberechtigte wie umfassende gesellschaftliche Teilhabe zu sichern, namentlich die vordem vorherrschende sozialräumliche Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen an Sonderorten wie Heimen, Werkstätten oder Sonderschulen zu überwinden. Diese Bemühungen zielen auf Inklusion. Diese beruht auf der Vorstellung, Behinderung sei eine Erscheinungsform menschlichen Lebens und dieses sei im Zeichen der Vielfalt (diversity) zu sichern.

Der Begriff der Behinderung ist abstrakt und dynamisch: abstrakt, weil er mit den gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt wird, und dynamisch, weil sich Krankheiten zu Behinderungen entwickeln und mit der Entwicklung von Medizin und Technik Möglichkeiten zur Überwindung von gesellschaftlichen Benachteiligungen auf Grund physischer, psychischer und Sinnes-Beeinträchtigungen entstehen können.

Angemessene Vorkehrungen sind die im Hinblick auf eine einzelne konkrete Behinderung gebotenen Gegenmaßnahmen, welche eine Person mit Behinderung die soziale Teilhabe konkret sichert. Dieser Begriff ist dreifach abhängig, nämlich von der Gesellschaft, in welcher ein Mensch mit Behinderung lebt, ferner von dessen konkreten Lebensumständen, und schließlich von den Bedingungen, unter denen dieser Teilhabe in der konkreten Gesellschaft finden kann.

Pflicht für Private

Die Pflicht zur Schaffung angemessener Vorkehrungen wird namentlich für Private im Hinblick auf den Schutz anderer Privater wegen einer Behinderung durch die Opfergrenze beschränkt. Diese Pflicht entfällt jedoch nicht, wenn Private für Ihre Vorkehrungen öffentlichen Ausgleich erhalten. Die Opfergrenze ist eine eigenständige Begrenzung der Pflicht zur Schaffung angemessener Vorkehrungen; sie ist nicht aus dem Progressionsvorbehalt (Art. 4 UN-BRK) abzuleiten, wiewohl sie mit diesem den Grundgedanken teilt.

Handlungsoptionen

Defizite im deutschen Gleichbehandlungsrecht für Menschen mit Behinderungen ausgleichen

Das Verbot einer Diskriminierung wegen einer Behinderung wie die Pflicht zur Schaffung angemessener Vorkehrungen sind auch in Art. 5 RL 2000/78/EG anerkannt. Das deutsche Recht muss diesem genügen. EU-Recht ist im Einklang mit der UN-BRK zu deuten. Der EuGH hat dafür weitreichende Präzisierungen vorgenommen. Diese Gebote stimmen mit den in Art. 1, 21 und 26 EUGrCh sowie in Art. 2, 3, 5, 14 EMRK niedergelegten Menschenrechten überein, welche durch die Rechtsprechung des EGMR präzisiert wurden. Diese Rechtsprechung bindet nicht nur die EU-Staaten, sondern sämtliche Staaten des Europarats.

Für das deutsche Recht untersagt die Verfassung die Diskriminierung von Menschen wegen einer Behinderung (Art. 3 III 2 GG). Diese Pflicht besteht nicht nur im Verhältnis zwischen Einzelnem und Staat, sondern entfaltet „Drittwirkung“ – gilt also auch unter Privaten. Die UN-BRK ist Teil des inländischen Rechts und entfaltet deshalb unmittelbare Rechtswirkung. Zwar ist diese durch die Konventionsstaaten zu konkretisieren, andererseits sind alle Konkretisierungen an der UN-BRK zu messen, weshalb diese unmittelbar auch bei Auslegung des deutschen Rechts zu beachten sind.

Das deutsche Recht kennt den Begriff der angemessenen Vorkehrungen nicht: Es strebt zwar an, der UN-BRK umfassend zu genügen. Aber nach wie vor bleibt es hinter dessen Anforderungen zurück, insoweit der Schutz von Menschen mit einer Behinderung auf die „Schwerbehinderten“ beschränkt bleibt, und bei Wohnen, Arbeit und Bildung Sondereinrichtungen fortbestehen. Schließlich reicht die gesundheitliche Versorgung behinderter Menschen nicht, um die volle soziale Teilhabe zu sichern.

Ausweitung des Begriffs auf weitere Diskriminierungsmerkmale

Der Begriff „angemessene Vorkehrungen“ entstammt zwar dem Recht der Gleichbehandlung von Menschen mit einer Behinderung; er ist darauf aber nicht zu beschränken. Er bietet eine zureichende Erklärung, um die zum Schutz von Menschen vor Diskriminierungen wegen des Geschlechts, der Religion oder des Alters sich ergebenden Handlungspflichten zu kennzeichnen. Er erfüllt dort denselben Zweck, nämlich die Bedingungen sozialer Teilhabe von Menschen potentieller Diskriminierungen zu umschreiben und einzelne Handlungsgebote zu begründen.

Aufnahme des Begriffs in das AGG

Der Begriff „angemessener Vorkehrungen“ ist daher ein Grundbegriff des allgemeinen Gleichbehandlungsrechts. Er sollte deshalb im AGG auch als ein Grundbegriff aufgenommen werden und darin jedem nach § 1 AGG geschützten Menschen einen Rechtsanspruch auf angemessene Vorkehrungen zuerkennen.        

Der Formulierungsvorschlag lautet:
„Jeder, durch § 1 AGG geschützte Mensch hat einen Rechtsanspruch auf angemessene Vorkehrungen. Diese sind notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem besonderen Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass die nach § 1 AGG geschützten Menschen gleichwertig mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen und ausüben können“.

Steckbrief ausdrucken