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Rehabilitierung der nach
§ 175 StGB verurteilten homosexuellen Männer

Auftrag, Optionen und verfassungsrechtlicher Rahmen

- Steckbrief zum Rechtsgutachten -

Autor*innen: Prof. Dr. Martin Burgi, im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) Erscheinungsjahr: 2016

Kurzüberblick

Homosexuelle Handlungen zwischen Männern waren – unter wechselnden Tatbestandsvoraussetzungen – bis 1994 strafbar. Die junge Bundesrepublik hatte den 1935 durch die Nationalsozialisten verschärften § 175 des Strafgesetzbuchs (StGB) übernommen. Die Opfer der Strafverfolgung nach 1945 bis zur Aufhebung der Strafvorschrift im Jahr 1994 wurden bis heute nicht rehabilitiert, die sie kriminalisierenden Urteile nicht aufgehoben.

Das Gutachtens prüft die Möglichkeiten einer Rehabilitierung der Opfer der Strafverfolgung und kommt zu dem eindeutigen Ergebnis, dass der Gesetzgeber zum Handeln, zur Rehabilitierung verpflichtet ist. Trotz Aufhebung der Strafvorschrift im Jahr 1994 besteht der Strafmakel einer mit höherrangigem Recht unvereinbaren Strafvorschrift weiter fort. Daraus folgt für den Gesetzgeber ein Rehabilitierungsauftrag, der auch eine Durchbrechung des Rechtsstaatsprinzips begründen kann. Dabei ist die Option einer kollektiven Rehabilitierung durch Aufhebungsgesetz einer individuellen Rehabilitierung vorzuziehen. Rechtlich unproblematisch ist die kollektive Entschädigung.

Wichtigste Ergebnisse

Betrachteter Sachverhalt

Nach der Vorschrift des § 175 StGB sind in der Bundesrepublik bis 1969 und in der DDR bis in das Jahr 1968 sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern ohne Vorliegen weiterer Umstände (nachfolgend: „einfache Homosexualität“) bestraft worden. Zwischen 1945 und 1969 führte die Strafverfolgungspraxis allein in der Bundesrepublik zu bis zu 50.000 Verurteilungen. Für die Betroffenen bedeutet dies durch die Haft erlittene Schädigungen an Freiheit, Leib und Seele und schwerwiegende soziale Belastungen, die vom Verlust von Arbeitsplatz und Wohnung über die Ausgrenzung in weiten Teilen der Gesellschaft bis hin zum Verlust der bürgerlichen Existenz reichen. Auf diesen Zeitraum konzentriert sich die grundsätzlich angelegte verfassungsrechtliche Untersuchung.

Bisherige Reaktionen von Bundestag und Bundesrat

Bundestag und Bundesrat sehen mittlerweile durch die zwischen 1945 und 1969 fortbestehende Strafbarkeit der sogenannten einfachen Homosexualität die Menschenwürde der Betroffenen verletzt. Während der Bundestag sich bislang darauf beschränkt hat, sein „Bedauern“ auszusprechen, fordert der Bundesrat gesetzliche Regelungen, die „vorrangig“ die Aufhebung der einschlägigen Strafurteile zum Inhalt haben sollen. Durch das NS-Aufhebungsgesetz wurden im Jahre 2002 alle auf der Grundlage des § 175 RStGB während der nationalsozialistischen Zeit ergangenen Urteile aufgehoben; § 175 RStGB ist nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland unverändert in der von den Nationalsozialisten verschärften Fassung im StGB beibehalten worden.

Verfassungsrechtliche Legitimation für staatliche Rehabilitierungsmaßnahmen

Die rechtswissenschaftliche Analyse zeigt, dass es eine verfassungsrechtliche Legitimation für staatliche Rehabilitierungsmaßnahmen zugunsten der Betroffenen gibt. Deren Bezugspunkt ist der gegenwärtige Zustand eines fortbestehenden Strafmakels auf der Grundlage einer mit höherrangigem Recht unvereinbaren Strafvorschrift (eben § 175 StGB). Dies knüpft an frühere Entscheidungen des BVerfG an, wonach der Fortbestand eines Strafmakels unter bestimmten Voraussetzungen Rehabilitierungsmaßnahmen auslösen kann. Grundlagen des staatlichen Rehabilitierungsauftrags sind die grundrechtliche Schutzpflicht sowie das Rechts- und das Sozialstaatsprinzip. Das Bestehen dieses Rehabilitierungsauftrags wirkt sich bei der Bestimmung etwaiger Grenzen für einzelne zu seiner Umsetzung ergriffene Maßnahmen aus. Der Rehabilitierungsauftrag selbst ist auf das Ziel, nicht bereits auf einzelne konkrete Maßnahmen gerichtet. Allerdings ist der Staat angesichts des fortbestehenden Strafmakels verpflichtet, die Vereinbarkeit dieses Zustands mit den Maßstäben des höherrangigen Rechts zu überprüfen und sein bisheriges Unterlassen neu zu bewerten.

Sowohl als Erstadressat des verfassungsrechtlich verankerten Rehabilitierungsauftrags als auch bei der Entscheidung zugunsten einer Durchbrechung des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit und des Grundsatzes der Gewaltenteilung ist dem Gesetzgeber ein weiterer Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum eröffnet.

Maßnahmen der kollektiven Rehabilitierung

Als Maßnahmen der kollektiven Rehabilitierung kommen die Aufhebung der einschlägigen Strafurteile durch Gesetz und/oder eine kollektive Entschädigungsleistung in Gestalt eines signifikanten Geldbetrages zwecks Durchführung von Aufklärungsprojekten, Erinnerungs- und Bildungsveranstaltungen in Betracht. Die Erweiterung der Wiederaufnahmetatbestände nach § 359 StPO oder die Schaffung eines Verfahrens zur Erklärung der einzelnen Urteile für menschenrechtswidrig erscheinen demgegenüber ebenso wenig zur erfolgreichen Erfüllung des Rehabilitierungsauftrags geeignet wie eine Einzelfallentschädigung. Denn angesichts der Zeitabläufe ist davon auszugehen, dass in den allermeisten Fällen die maßgeblichen Verfahrensakten nicht mehr verfügbar sind und dass das die Maßnahmen der individuellen Rehabilitierung kennzeichnende Erfordernis von Einzelentscheidungen sowohl für die betroffenen Männer als auch für Gerichte bzw. Behörden einen kaum vorstellbaren Verfahrensaufwand verursachen würde.

Rechtliche Voraussetzungen für kollektive Rehabilitierungsmaßnahmen

Die dem Rehabilitierungsauftrag am besten genügende kollektive Rehabilitierungsmaßnahme der Aufhebung der einschlägigen Strafurteile würde nicht am Bestehen belastbarer verfassungsrechtlicher Grenzen scheitern.

Insbesondere liegen alle Voraussetzungen für eine Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtssicherheit vor, da der fortbestehende Strafmakel auf einem klar abgrenzbaren Kreis von persönlich durch die staatliche Strafverfolgung und die strafrechtlichen Verurteilungen schwer Betroffenen lastet und auf einer Norm (§ 175 StGB) beruht, die in qualifizierter Weise gegen Verfassungsvorschriften verstößt. Denn § 175 StGB stellt einen Eingriff in den unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG dar, jedenfalls bildet er einen grob unverhältnismäßigen Eingriff in dieses Grundrecht. Jene Voraussetzungen für eine Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtssicherheit knüpfen teilweise an bislang anerkannte Durchbrechungen an, die aber nicht als abschließend anzusehen sind; der bloße Schluss aus dem Umstand des bisherigen Fehlens eines Aufhebungsgesetzes innerhalb der zeitlichen Geltung des Grundgesetzes (also ohne einen Systemumbruch) auf dessen Verfassungswidrigkeit greift zu kurz.

Auch der (in den Worten des BVerfG) nirgends rein verwirklichte Grundsatz der Gewaltenteilung kann im hier vorliegenden Falle eines qualifizierten Verfassungsverstoßes der Strafandrohungsvorschrift (des § 175 StGB) einerseits, einer kollektiven, klar abgrenzbaren Betroffenheit andererseits durchbrochen werden, zumal ein Aufhebungsgesetz lediglich ad personam wirken und primär an die frühere Verantwortung des Gesetzgebers selbst anknüpfen würde.

Schließlich würde die Aufhebung der Strafurteile auf der Grundlage des § 175 StGB keine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG im Hinblick auf den gleichzeitigen Fortbestand von Verurteilungen aufgrund eines Verstoßes gegen die seinerzeit bestehenden Straftatbestände der Kuppelei bzw. des Ehebruchs bewirken. In beiden Fällen liegt kein bzw. ein vergleichsweise deutlich weniger qualifizierter Verfassungsverstoß vor und bestand eine weniger intensive Verfolgungspraxis sowie eine schwächere Betroffenheit. Die Stigmatisierung und die Intensität der gesellschaftlichen Repressionen, die die von einer Verurteilung nach § 175 StGB Betroffenen überwiegend und typischerweise erlitten haben, sind insoweit unvergleichlich.

Kollektive Entschädigungsleistungen

Ebenfalls keine verfassungsrechtlichen Bedenken würde die Rehabilitierungsmaßnahme einer kollektiven Entschädigungsleistung auslösen.

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