Gut beraten -
Auf dem Weg zu einer flächendeckenden Antidiskriminierungsberatung in Deutschland
Aktueller Stand und konzeptionelle Eckpunkte
- Steckbrief zum Forschungsprojekt -
Autor*innen: Daniel Bartel (Antidiskriminierungsverband Deutschland), Prof. Dr. Annita Kalpaka (Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg), unter Mitarbeit von Eben Louw und Philipp Fode, im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Erscheinungsjahr: 2022
Kurzüberblick
Ziel der Studie ist es, den aktuellen Stand in der deutschen Antidiskriminierungsberatungslandschaft zu erfassen. Dabei geht es u.a. um Arbeitsgrundlagen, räumliche Verteilung der Stellen oder die Ressourcen dieser. Auf Basis der Ergebnisse wird ein Konzept für den Ausbau einer flächendeckenden Beratungsstruktur erarbeitet.
Wichtigste Ergebnisse
Status Quo der Antidiskriminierungsberatungslandschaft in Deutschland
- Im gesamten Bundesgebiet gibt es aktuell circa 100 AD-Beratungsstellen. Rein rechnerisch teilen sich somit mehr als vier Landkreise beziehungsweise kreisfreie Städte eine Beratungsstelle.
- Die Beratungsstellen sind klein und haben wenig Ressourcen. Durchschnittlich arbeitet eine Beratungsstelle mit weniger als einer Vollzeitpersonalstelle und einem Budget von unter 100.000 Euro.
- Der Finanzierung der Beratungsstellen fehlt es überwiegend an Stabilität und Nachhaltigkeit. So geben drei von vier Stellen an, dass der Bedarf durchschnittlich nur mit bis zu 60 Prozent gedeckt wird. Nur eine von zehn Stellen kann mit einer Perspektive von mehr als 2 Jahren planen.
- In Summe gibt es in Deutschland weniger als 100 Vollzeitpersonalstellen. Das entspricht einem Verhältnis von durchschnittlich einer Vollzeitberater*innenstelle auf 922.000 Einwohner*innen.
- Die Beratungsstellen sind ungleich verteilt. Es gibt eine Konzentration in urbanen Ballungsräumen, während es in ländlich geprägten Räumen nur wenig Unterstützungsangebote gibt. Einige Bundesländer haben stark ausgeprägte Angebote, während in anderen Bundesländern wenige bis keine Stellen existieren.
- Der Großteil der Beratungsarbeit wird von nicht-staatlichen Stellen geleistet. Diese werden überwiegend von den Bundesländern finanziert.
- Die AD-Beratungsstellen arbeiten bereits gut qualifiziert und fachlich fundiert. Die Berater*innen verfügen über Qualifikationen in den sozial-, rechts- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen und verfügen mehrheitlich über bereichsspezifische Zusatzqualifikationen.
- Bei der AD-Beratung handelt es sich um ein sich schnell entwickelndes, aber noch junges Feld.
Das AD-Beratungsangebot in Deutschland ist nicht flächendeckend.
Das Konzept flächendeckender Antidiskriminierungsberatungsstrukturen
Gegenstand des Beratungsangebotes
Eine flächendeckende AD-Beratungsstruktur ist die Summe und das Zusammenwirken spezialisierter AD-Beratungsstellen. Diese Beratungsstellen sollten sich an einem gemeinsamen und klar definierten Beratungsauftrag ausrichten.
Die Arbeit der AD-Beratungsstellen umfasst:
- psychosoziale Unterstützung
- Beratung zu außergerichtlichen und rechtlichen Handlungsmöglichkeiten
- Unterstützung bei und aktive Begleitung von Auseinandersetzungen mit der diskriminierungsverantwortlichen Seite
- Sichtbarmachung von Diskriminierung und fallübergreifende Interventionen
Die Arbeit der AD-Beratungsstellen sollte auf fachlichen Standards basieren. Als eine gemeinsame Grundlage sind die Standards für eine qualifizierte Antidiskriminierungsberatung (advd, 2009) geeignet.
Das Beratungsangebot sollte in der Summe wohnortnah alle relevanten Diskriminierungsgründe bzw. Machtverhältnisse und alle Lebensbereiche abdecken. Dieses Angebot kann durch eine zielgruppen- und lebensbereichs-übergreifend ausgerichtete einzelne Beratungsstelle oder durch eine Kombination sich ergänzender zielgruppen- und/oder lebensbereichsspezifisch arbeitender Beratungsstellen realisiert werden. Aus fachlicher Sicht sind beide Wege vertretbar.
Umfang, Ressourcenbedarf und Verteilung des Beratungsangebots
Der Umfang des AD-Beratungsangebots sollte in personellen Ressourcen, die für die Beratung zur Verfügung stehen, bemessen werden. Diese Zahl sollte ins Verhältnis zu der zu versorgenden Zahl von Einwohner*innen gesetzt werden. Für eine flächendeckende Beratung sollte das Verhältnis einer Vollzeitberater*innenstelle auf 100.000 bis 200.000 Einwohner*innen nicht unterschritten werden. Gleichzeitig sollte eine Mindestzahl von zwei Berater*innen pro Beratungsstelle angestrebt werden.
Der Ressourcenbedarf der Beratungsstelle sollte sich an der Zahl der Personalstellen in der Beratungsarbeit orientieren und neben den Personalkosten auch angemessene Ressourcen für Sach-, Honorar-, und Gemeinkosten umfassen. Der Ressourcenbedarf kann auf der Grundlage der Berechnungen der Studie mit derzeit 108.000 Euro pro Vollzeitberater*innenstelle und Jahr kalkuliert werden.
Die AD-Beratungsstellen sollten in der Fläche verteilt sein, sodass ein wohnortnahes Beratungsangebot gesichert werden kann. Dabei sollte die Verteilung der Stellen an der sozial- und verwaltungsräumlichen Gliederung des Bundesgebietes in kreisfreie Städte und Landkreise ausgerichtet werden. Entsprechend sollte der räumliche Wirkungsbereich einer Beratungsstelle an der Größe eines Landkreises beziehungsweise einer kreisfreien Stadt orientiert sein.
Rahmen des Beratungsangebotes
Da die AD-Beratungsstellen die Interessen der Betroffenen vertreten, sollte die fachliche Unabhängigkeit der Stellen strukturell garantiert sein.
Ein niedrigschwelliges Unterstützungsangebot benötigt neben spezialisierten AD-Beratungsstellen ein breites Netz an Erst-und Verweisberatungsstellen, die Diskriminierung erkennen, benennen und Betroffene dazu ermutigen, Unterstützung in Anspruch zu nehmen und bei Bedarf an spezialisierte AD-Beratungsstellen verweisen.
Für ein flächendeckendes und in seiner Qualität vergleichbares Beratungsangebot benötigt es die Zusammenarbeit von Akteur*innen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sowie eine verbindliche Klärung der Zuständigkeiten und Rollen. Hierfür sollten die bereits existierenden Akteur*innen und Strukturen im Feld genutzt werden.
Die Entwicklung und Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen, verlässlichen und qualitativ hochwertigen Beratungsangebots erfordert einen stabilen und planbaren Rahmen. Die Bedarfe der AD-Beratung sollten vollständig finanziert und mindestens mittelfristig (5 Jahre) gesichert werden. Die Förderung des Beratungsangebots benötigt eine gesetzliche Verankerung.
Unabhängig von der angebotskoordinierenden und -verwaltenden Struktur sollte eine angemessene bundeszentrale Fachstruktur für die AD-Beratung, aufbauend auf den bereits existierenden Angeboten gesichert werden.
Die Arbeit der AD-Beratung sollte regelmäßig evaluiert werden. Ein angemessener Zeitraum dafür sind fünf Jahre. Die regelmäßige Sammlung und Veröffentlichung von Kennzahlen, bezüglich der Beratungstätigkeit sowie der Entwicklung der Beratungsstrukturen durch koordinierende Stellen, wird empfohlen. Dies kann auch in Kooperation mit den bundeszentralen Fachstrukturen geschehen.
Handlungsoptionen
Die Autor*innen empfehlen, die aktuell bestehenden Beratungsstrukturen im Bundesdurchschnitt um den Faktor 5 bis 10 zu erweitern und systematisch in die Fläche zu bringen. Erst dann kann nach Ansicht der Autor*innen von einem flächendeckenden AD-Beratungsangebot gesprochen werden, das für alle Menschen in Deutschland erreichbar und nutzbar wäre, unabhängig davon, in welchem Bundesland und welcher Region sie leben.
Dabei soll ein Versorgungsschlüssel von einer Vollzeit-Berater*innenstelle auf jeweils 100.000 bis 200.000 Einwohner*innen anvisiert werden.
Um die Qualität der einzelnen Beratungsangebote sicherstellen zu können, sind weiterhin Beratungsstellen-übergreifende Fachstrukturen und eine systematische Stärkung von Erst-und Verweisberatungsstrukturen zu empfehlen.
Durch das föderale System in Deutschland braucht es für einen systematischen Ausbau der Beratungsangebote eine fachliche Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Bei dem flächendeckenden Ausbau nehmen besonders die Länder und hier vor allem die Bundesländer beziehungsweise ihre Landesantidiskriminierungsstellen eine zentrale Rolle ein.