Jenseits
von männlich und weiblich
Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung im Arbeitsrecht und öffentlichen Dienstrecht des Bundes
- Steckbrief zur Studie -
Autor*innen: Prof. Dr. Anatol Dutta, M. Jur. (Oxford), München, Prof. Dr. Matteo Fornasier, LL. M. (Yale), Ruhr-Universität Bochum, im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) Erscheinungsjahr: 2019
Kurzüberblick
In den Jahren 2013 und 2018 hat das deutsche Personenstandsrecht für Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung die Möglichkeit geschaffen, in einem Personenstandseintrag statt des männlichen oder weiblichen Geschlechts den Eintrag zum Geschlecht unbestimmt zu lassen oder den Eintrag „divers“ aufzunehmen. Die vorliegende Studie untersucht die Konsequenzen dieser gesetzgeberischen Entscheidung für das Arbeitsrecht und das Recht des öffentlichen Dienstes. In beiden Rechtsgebieten spielt das Geschlecht des Menschen – vor allem auf Beschäftigtenseite – eine zentrale Rolle. Beide Rechtsgebiete folgen indessen weitgehend einem binären Geschlechtsmodell, das nur das männliche oder weibliche Geschlecht kennt. Die Studie lotet aus, welche geschlechtsbezogenen Normen nach den anerkannten Methoden der Rechtsanwendung auf Personen mit unbestimmtem oder diversem Geschlechtseintrag anwendbar sind und bei welchen Normen die Gesetzgebung Klarstellungen oder rechtspolitische Entscheidungen treffen muss. Berücksichtigt wird nicht nur das deutsche Verfassungsrecht, das treibende Kraft bei der rechtlichen Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen ist, sondern auch das Recht der Europäischen Union. Das Unionsrecht spielt für den Schutz vor geschlechtsbezogener Diskriminierung am Arbeitsplatz eine prägende Rolle. Demgegenüber klammert die Arbeit die allgemeine Frage nach sprachlichen Anpassungen der einschlägigen Vorschriften aus; diese Frage reicht über das Arbeits- und öffentliche Dienstrecht hinaus und stellt sich im Übrigen auch bereits im binären Geschlechtsmodell.
Wichtigste Ergebnisse
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass ein positiver Geschlechtseintrag für Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung möglich sein muss, solange das Geschlecht personenstandsrechtlich erfasst wird, und die gesetzgeberische Umsetzung dieser Vorgaben im neugefassten Personenstandsgesetz, haben weitreichende Konsequenzen für die Rechtsordnung insgesamt.
Handlungsoptionen
Im Arbeitsrecht und im öffentlichen Dienstrecht des Bundes bedürfen sämtliche Vorschriften einer Anpassung, die an das Geschlecht als Tatbestandsmerkmal anknüpfen.
Der gesetzgeberische Anpassungsbedarf variiert je nachdem, welche Art geschlechtsbezogener Normen betroffen ist:
- Bei den Diskriminierungsverboten und den Regelungen des Mutterschutzes erscheint eine gesetzgeberische Korrektur nicht verfassungsrechtlich geboten. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Schutz von Beschäftigten mit offenem oder diversem Geschlechtseintrag lassen sich bereits durch die Mittel der Auslegung und der richterlichen Rechtsfortbildung erreichen. Eine solche Anpassung ist mit den Vorgaben des europäischen Antidiskriminierungsrechts vereinbar. Das neu gefasste Mutterschutzgesetz trägt den Schutzbelangen intergeschlechtlicher Beschäftigten in einer eigenständigen Vorschrift Rechnung.
- Unverzichtbar erscheint eine gesetzgeberische Intervention hingegen bei den neutralen gesetzlichen Differenzierungen, also bei den Vorschriften, die nach dem Geschlecht differenzieren, ohne damit das typischerweise benachteiligte Geschlecht besserzustellen. Hier sollten entweder spezielle Regeln für die dritte Geschlechtsoption eingeführt werden (Modell der erweiterten Differenzierung) oder auf die geschlechtsspezifische Differenzierung insgesamt verzichtet werden (Unisex-Modell). Hingegen sind Menschen mit dem Geschlechtseintrag „divers“ oder ohne positive Geschlechtsangabe in ihren Grundrechten verletzt, wenn ihnen das Gesetz lediglich ein Wahlrecht einräumt, ob sie den für Männer oder den für Frauen geltenden Vorschriften unterliegen wollen (binäres Optionsmodell).
- Komplizierter stellt sich die Situation bei den positiven Diskriminierungsmaßnahmen zugunsten des unterrepräsentierten Geschlechts dar. Der Gleichstellungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 GG, der solche Differenzierungen legitimiert, erfasst aus historischen und systematischen Gründen nur das Verhältnis zwischen Frauen und Männern. Eine Bevorzugung intergeschlechtlicher Menschen durch Quoten- oder sonstige Förderregelungen lässt sich ohne Anpassung des Grundgesetzes nicht rechtfertigen. Ebenso wenig dürfen jedoch unterrepräsentierte Frauen und Männer auf Kosten intergeschlechtlicher Personen bevorzugt werden. Eine entsprechende Klarstellung in den gleichstellungsrechtlichen Vorschriften erscheint wünschenswert. Verfassungsrechtlich vertretbar ist im Übrigen auch der vollständige Verzicht auf geschlechtsspezifische Fördermaßnahmen (Unisex-Modell). Ein Wahlrecht für Menschen mit unbestimmtem oder diversem Geschlecht, ob sie für die Zwecke der geltenden Förderregeln dem männlichen oder weiblichem Geschlecht zugeordnet werden möchten (Optionsmodell), ist indessen mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Soweit das Arbeitsrecht oder das Recht des öffentlichen Dienstes besondere Regelungen zum Schutz von Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung vorsehen, darf das Recht diesen Schutz auf Personen beschränken, die von der dritten Geschlechtsoption personenstandsrechtlich Gebrauch gemacht haben.