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Dr. Doris Liebscher // zur sog. „Migrant*innenquote“ für den öffentlichen Dienst 29.03.2021

Dr. Doris Liebscher, 3 Fragen an

Quelle:Privat

Dr. Doris Liebscher ist Juristin. Seit September 2020 leitet sie die Ombudsstelle für das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz, zuvor forschte und lehrte sie Antidiskriminierungsrecht an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Dissertation „Rasse im Recht. Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten Kategorie“ erscheint im Mai 2021 bei Suhrkamp.


Sobald die Forderung nach einer „Quote“ im Raum steht, ist Gegenrede unterschiedlich heftigen Ausmaßes nicht fern. Dass Quotenregelungen per se benachteiligender Natur und als Instrument ungeeignet seien, da sie nicht primär entsprechende Qualifikation im Blick hätten, sondern lediglich die Zugehörigkeit zu der von der Quote umfassten Gruppe, ist hierbei eines der am häufigsten vorgebrachten Argumente. So auch bei der für Berlin diskutierten Migrant*innenquote für den öffentlichen Dienst, durch die der Anteil von Menschen mit ausländischen Wurzeln in diesem Bereich erhöht werden sollte. Was es mit besagter Quote genau auf sich hat und welche Möglichkeiten sie verspricht, damit befasste sich die Juristin und Leiterin der Ombudsstelle für das Berliner Antidiskriminierungsgesetz, Dr. Doris Liebscher, in einem von ihr u.a. hierzu erstellten Gutachten.

Drei Fragen

1) Wieso braucht es eine solche Quote?

Mit einer Erhöhung der Chancen und der Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte bzw. mit Rassismuserfahrungen im öffentlichen Dienst können unterschiedliche Ziele erreicht werden. Zum einen geht es um eine gerechte Verteilung in einer demokratischen und inklusiven Gesellschaft. Gleiche Chancen, gleiche Sichtbarkeit, gleiche Teilhabe werden vielen Menschen, die strukturell benachteiligten Gruppen angehören, immer noch verwehrt. Für Frauen und für Menschen, die behindert werden, gibt es daher schon seit Langem die Möglichkeit, bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt oder befördert zu werden. Dieses Prinzip muss auch für Menschen aus Einwanderungsfamilien, für People of Color und für Sint:izze und Rom:nja gelten. Auch diese Bevölkerungsgruppen blicken auf eine lange Geschichte von Ausschlüssen und Benachteiligungen zurück, die Maßnahmen zum Nachteilsausgleich notwendig machen. Zweitens geht es um eine Öffnung der Verwaltung für Perspektiven, die bisher zu wenig vertreten sind sowie um Erweiterung des Rekrutierungspotenzials an gutem Nachwuchs. Das dritte Ziel ist die Verbesserung der Legitimation und der Kommunikationsfähigkeit der Verwaltung im Bürger*innenkontakt in einer Gesellschaft, die auch von Migration, von Vielsprachigkeit und von kultureller und religiöser Vielheit geprägt ist. Und damit komme ich viertens zur Frage der angemessenen Repräsentation: 35 Prozent der Berliner*innen haben einen sogenannten Migrationshintergrund, Tendenz steigend, das muss eine moderne Verwaltung auch abbilden.

2) Wem genau soll diese Quote zugutekommen und wie?

Diese positiven Maßnahmen können einerseits Menschen mit Migrationshintergrund zukommen. Das statistische Bundesamt erfasst darunter Menschen, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden. Der Vorteil hier ist, dass der Migrationshintergrund bereits statistisch erfasst wird und sich einfach nachweisen lässt. Der Nachteil ist, dass diese Definition viele Menschen nicht erfassen kann, die Rassismuserfahrungen machen, weil ihnen Nichtzugehörigkeit zugeschrieben wird. Deshalb sollte der Anwendungsbereich erweitert werden auf Menschen mit tatsächlicher oder zugeschriebener Migrationsgeschichte. Das sind 1. Menschen mit Migrationshintergrund sowie 2. Menschen, denen aufgrund von rassialisierten und ethnisierten Vorstellungen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird.
Diese Zuschreibungen können insbesondere an phänotypische Eigenschaften, Sprache, Namen, Herkunft, Nationalität und Religion anknüpfen. Solange diese Menschen im öffentlichen Dienst weniger stark repräsentiert sind, als es dem Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung entspricht, sollen sie bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt eingestellt oder befördert werden. Das entspricht den Regelungen zur Gleichstellung von Frauen. Dort gilt als Grad der Repräsentation 50 Prozent. Es handelt sich in all diesen Fällen nicht um eine echte Quote, sondern um eine verbindliche Entscheidungsquote.

3) Welche rechtlichen Probleme sehen Sie und wie könnten diese gelöst werden?

Der Knackpunkt ist die Verfassungsmäßigkeit der Regelung. Bei Einstellungen und Beförderungen im öffentlichen Dienst ergibt sich aus Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz, dass nur unter der Voraussetzung gleicher Qualifikation auf andere Auswahlkriterien zurückgegriffen werden darf. Eine automatische Bevorzugung von Angehörigen strukturell benachteiligter Gruppe im Sinne einer strikten Quote, würde gegen diesen Grundsatz der Bestenauslese verstoßen. Zudem muss die Unterrepräsentation tatsächlich und statistisch nachgewiesen werden, auch im Bereich der Leitungsfunktionen. Die strittigere Frage ist, ob positive Maßnahmen zugunsten von Menschen mit tatsächlicher oder zugeschriebener Migrationsgeschichte gegen das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verstoßen. Ausdrücklich gebietet nur Art. 3 Abs. 2 GG Gleichstellungsmaßnahmen, und zwar für Frauen. Eine kompensierende Bevorzugung kann angesichts von strukturellen Nachteilen, die anders nicht auszugleichen sind, aber zur Herstellung tatsächlicher Chancengleichheit hinsichtlich aller in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG genannten Kategorien erforderlich sein.
Sonst würde der Schutz vor Diskriminierung leerlaufen. Positive Maßnahmen sollen gerade vor Diskriminierung schützen und auch die Ausübung von Grundrechten, wie die Berufsfreiheit, Art. 12 GG, ermöglichen. Eine solche Sicht wird gestützt durch die Auslegung von Art. 3 Grundgesetz im Lichte von internationalem Recht (Art. 2 Abs. 2 ICERD) und Recht der europäischen Union (Art. 5 RL 43/2000/EG). Danach sind positive Maßnahmen zum Ausgleich rassistischer Diskriminierung zulässig bzw. sogar geboten.