Charité Universitätsmedizin Berlin Verfahrensablauf für Beratungen und Beschwerden
An der Charité wurde ein Verfahrensablauf für Beratungen und Beschwerden in Fällen sexueller Belästigung entwickelt, die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten sind erste Ansprechpersonen.
- Arbeitgebertyp:
- Öffentlicher Betrieb und Verwaltung
- Anzahl der Mitarbeiter*innen:
- 18.700
- Maßnahme:
- Verfahrensablauf für Beratungen und Beschwerden
- Durchführung:
- seit 2014
- Weitere Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung:
-
Studie, Ansprechpersonen, Richtlinie
Kontakt
Christine Kurmeyer & Sabine Jenner, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte E-Mail: Frauenbeauftragte@charite.de Telefon: 030 450 577 252
Einige Angaben zum Arbeitgeber
Die Charité ist das älteste Krankenhaus Berlins und heute als Verbund von Universitätskliniken eine der größten Universitätskliniken Europas. Der Frauenanteil der Beschäftigten liegt konstant über alle Beschäftigtengruppen hinweg bei ca. 70 Prozent. In Leitungspositionen liegt der Frauenanteil bei ca. 30 Prozent.
Ausgangslage und Motivation
Vor dem Hintergrund eines Vorfalls im Jahr 2013 bat der Vorstand des Universitätsklinikums Charité Berlin die Gleichstellungsbeauftragten, das Thema sexuelle Belästigung anzugehen. Seither wurden verschiedene Maßnahmen dazu erarbeitet. Beispielsweise führte die Charité 2014 bis 2016 das Forschungsprojekt „Watch-Protect-Prevent“ (WPP) zur Prävention sexueller Belästigung im Klinikambiente durch und entwickelte einen Maßnahmenkatalog (Workplace Policy) zum Schutz und Prävention von sexueller Diskriminierung durch Aufmerksamkeit für das Thema (Watch), Schutzangebote (Protect) und präventive Maßnahmen (Prevent). Dabei werden durchgängig die besonderen Rahmenbedingungen des Handlungsfelds Universitätsmedizin berücksichtigt. So können Beschäftigte, Studierende und Patient*innen ganz unterschiedlich von sexueller Belästigung betroffen sein. Das Überschreiten intimer Grenzen gehört in der Behandlung zum Alltag von Beschäftigten und Patient*innen, so dass hier eine klare Abgrenzung von professionellen Grenzüberschreitungen gegenüber unerwünschten Grenzverletzungen notwendig ist.
Zugleich begünstigen die ausgeprägten Hierarchien in Krankenhäusern sowie die spezifischen Abhängigkeiten im Hochschulbetrieb Grenzüberschreitungen im Kontext von Machtausübung.
Maßnahmenbeschreibung
In der „Richtlinie zur Prävention und zum Umgang mit sexueller Belästigung an der Charité – Universitätsmedizin Berlin“, in der Broschüre „Grenzüberschreitungen, Grenzverletzungen, Abgrenzungen“ und im Intranet sind der Beratungs- und Beschwerdeablauf bei sexueller Belästigung im Arbeits-, Behandlungs- und Studienumfeld, die internen Beratungsangebote und die gesetzlichen Grundlagen dargestellt. Betroffene erfahren, wo die erste Ansprechstelle ist, wer je nach beamtenrechtlichen oder arbeitsrechtlichen Konsequenzen offiziell zuständig ist, wer alles involviert ist und welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt.
Bei Vorfällen sind vor allem die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte die Hauptansprechpersonen, neben Vertreter*innen des Personalrats. Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragen unterliegen der Schweigepflicht, sie fungieren als Beraterinnen und nehmen Beschwerden entgegen. Ihre Aufgaben sind Begleitung, Aufklärung über Verfahrensmöglichkeiten und das Führen von Klärungsgesprächen mit Betroffenen. Auch wenn diese Gespräche wichtig und entlastend sind, verstehen die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten ihr Angebot nicht als psychosoziale Beratung, sondern verweisen dafür an die Traumaambulanz und einschlägige externe Fachberatungsstellen. Die Betroffenen haben das Verfahren in der Hand: Ohne ihre Zustimmung werden keine weiteren Schritte eingeleitet. Wenn die Vorklärung ergibt, dass eine Beschwerde nach dem AGG eingelegt werden soll, wird der Leiter des Personalbereichs involviert, der als offizielle AGG-Beschwerdestelle dann in enger Abstimmung mit den Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten aktiv wird. Erst dann ist das Verfahren nicht mehr reversibel. Es kommt dann gegebenenfalls zu einem Personalgespräch, arbeitsrechtlichen Maßnahmen sowie Einzelmaßnahmen (z.B. Ausschluss, Hausverbot und Exmatrikulation). Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte können sich auch stellvertretend für Betroffene an Vorgesetzte wenden und können bei Beschwerden Missstände auch anonymisiert ansprechen.
Der Ablauf wird alle zwei Jahre einer QM-Prüfung unterzogen und dann vom Vorstand geprüft. In diesen festgelegten Prozess können Erfahrungen eingespeist werden und so regelmäßig Optimierungen vorgenommen werden. So wurden etwa auch anonyme Beschwerden ermöglicht oder zwischen Beratung und Beschwerde differenziert.
Stimmen aus der Praxis und Wirksamkeit
Alle Befragten bewerten den standardisierten Verfahrensablauf sehr positiv. Aus Sicht der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten ist er „Dreh- und Angelpunkt“ der Aktivitäten gegen sexuelle Belästigung. Die damit geschaffene Transparenz der Abläufe ist aus Ihrer Sicht „tatsächlich ein Durchbruch“ gewesen. Der Verfahrensablauf mache allen Betroffenen klar, was möglicherweise auf sie zukommt, wenn das Verfahren offiziell eingeleitet wird. So könne von Anfang an transparent gemacht werden, dass es klare Ablaufschritte gibt und wer ansprechbar ist. Grundlegend sei, dass Betroffene im Rahmen der Beratung selbst entscheiden können, ob sie ein offizielles Beschwerdeverfahren einleiten möchten. Entsprechend hören Verfahren auch oft vor arbeitsrechtlichen Maßnahmen auf. Besonders wichtig sei es für Betroffene, dass sich für sie im Rahmen der unverbindlichen Beratung klären lässt, was genau passiert ist und sie mit ihrer Wahrnehmung ernst genommen werden.
Eine Personalrätin lobt die sehr gute Kooperation und Kommunikation der Verfahrensbeteiligten. Den Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten werde vertraut, ihre Kompetenz geschätzt und anerkannt. Für die befragte Personalrätin selbst ist es eine Entlastung, dass sie an die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten verweisen kann, weil sie da die Fachkompetenz und Spezialisierung im Themenfeld und die Möglichkeit optimaler Unterstützung sieht. Wenn arbeitsrechtliche Konsequenzen im Zusammenhang mit sexueller Belästigung Gegenstand von Personalgesprächen sind und sie als Personalrätin als Vertreterin der Beschäftigten teilnehme, müsse sie die Interessen aller Beschäftigten im Blick haben, auch die der Beschuldigten. Dies führe zu einem Interessenkonflikt. Deswegen sei es sinnvoll, „dass das voneinander getrennt ist“. Es sei günstiger, „wenn das jemand außerhalb ist“, oder eine Institution wie die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, die „wirklich für die Betroffenen dann auch agiert“.
Die befragten Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten heben hervor, dass ihre Beratung oft sehr aufwändig sei. Seit Einführung der Verfahren habe die Zahl der Beratungen zugenommen. Allerdings kämen kaum Männer, hier sieht die befragte Personalrätin Optimierungsmöglichkeiten. Auch sexuelle Belästigung von Personen mit nichtheterosexueller Orientierung sei ebenfalls ein wichtiges Thema.
Die Rückmeldungen von Betroffenen ergeben nach Auskunft der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten ein differenziertes Bild. Auch wenn die Unterstützung gerne angenommen wird, seien Verfahren und Resultat für Betroffene häufig unbefriedigend, wenn es zu offiziellen Beschwerden kommt. Für die Betroffenen seien Dauer und Kleinteiligkeit der Verfahren oft schwer zu ertragen. Dazu trage bei, dass eine Aufarbeitung in juristischer Sprache Vorkommnisse ‚banalisieren‘ könne. So blieben oft emotionale Verletzungen und die Notwendigkeit niedrigschwelliger Unterstützung durch Opferhilfe e.V. und Traumambulanz.
Problematisiert wird von mehreren Befragten, dass Alltagssexismus – besonders in der Sprache - noch häufig vorkomme. Insbesondere Führungskräfte verharmlosten dies noch häufiger. Trainings für Führungskräfte werden daher als wichtig eingeschätzt, um diesen ihre Verantwortung aufzuzeigen und sie für eingreifendes Handeln zu motivieren. Die Personalrätin gibt an, dass man auf einem guten Weg sei, aber noch „etliche Wegstrecke“ zurückzulegen sei, weil verbale Belästigungen noch stattfänden. Sie verspricht sich hier Fortschritte durch weitere Sensibilisierungsbemühungen und einen Generationenwechsel in der Belegschaft.
Einbettung der Maßnahme
An der Charité werden im Rahmen der Workplace Policy viele Maßnahmen umgesetzt. Eine offene Kommunikation und konstruktive Feedbackkultur werden angestrebt, sexuelle Belästigung und Umgangsmöglichkeiten damit sind Gegenstand von Teamsitzungen, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen.
Zum Beispiel werden auch Kurzinterventionen zur Klimaverbesserung im OP in Form von 45-minütigen interaktiven Workshops für OP-Teams über alle Hierarchiestufen hinweg und mit allen Professionen durchgeführt. Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten geben an, dass diese Initiative dazu beitragen soll, dass durch einen häufig eher kurz angebundenen Tonfall geprägte Klima im OP zu verbessern und als vor-Ort-Maßnahme nachhaltig zu wirken. Sexuelle Belästigung und die Beratungsmöglichkeiten werden zu Semestereinführungen und Studienbeginn angesprochen und vorgestellt. Zukünftig sollen auch alle neuen Beschäftigten systematisch über die Workplace Policy informiert werden, durch das Aushändigen der Richtlinie zum Schutz und zur Prävention von sexueller Belästigung an alle neuen Mitarbeitenden, mit der Unterschrift zur Kenntnisnahme Darüber hinaus arbeiten die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten beständig daran, auch die technische und räumliche Ausstattung auf jedem Campus so zu gestalten, dass problematische, architektonische Gegebenheiten abgebaut werden, dazu zählt zum Beispiel auch eine ausreichende Ausleuchtung der Wege auf dem Campus.
Ebenfalls ein Schwerpunkt ist die Sensibilisierung und Information der Beschäftigten und Studierenden durch schriftliches Material – gedruckt und digital. Die Broschüre „Grenzüberschreitungen, Grenzverletzungen, Abgrenzungen“ stellt alle wesentlichen Informationen zusammen. Sie berücksichtigt alle Schnittstellen und Ebenen in der Universitätsklinik. Thematisiert wird sexuelle Belästigung in der Arbeitssituation und im Studium, durch Kolleg*innen, Vorgesetzte, durch und gegenüber Patient*innen, Angehörigen, Kommiliton*innen ebenso wie sexualisierter Kindesmissbrauch. Die verschiedenen Kapitel sind hinterlegt mit vielen Beispielen und Hinweisen auf weiterführende Informationen. Zusätzlich befindet sich auf der Startseite des Intranets ein prominenter Button zum Thema „Prävention und Schutz vor Grenzverletzungen“, dort sind Links zu Ansprechpersonen, Beratungsstellen, Richtlinien und allen relevanten Dokumenten hinterlegt.
Tipps für die Übertragung
Alle Befragten halten die Maßnahmen für gut übertragbar, der Beratungs- und Beschwerdeablauf könne aus dem Universitätsmedizinkontext sowie Branchen übergreifend als Vorlage dienen und in angepasster kulturspezifischer Form angewendet werden. Insbesondere der öffentliche Beschwerdeablauf der Charité könne leicht übernommen werden. Wichtig sei, dass Institutionen es wollen und dass Ansprechpersonen (z.B. Antidiskriminierungs-Beauftragte) etabliert und mit ausreichend Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet werden. Vorbehalte, die es anfangs auf Leitungsebene gab, konnten bei der Charité ausgeräumt werden. Hier sei es wichtig zu vermitteln, dass Vorfälle sexueller Belästigung Teil gesellschaftlicher wie betrieblicher Normalität sind und es Veränderungen bei Führungsstilen und Betriebskultur brauche, um dies zu verändern.

Weiterführende Materialien zur Maßnahme
- Broschüre „Grenzüberschreitungen Grenzverletzungen Abgrenzungen“
- Richtlinie zur Prävention und zum Umgang mit sexueller Belästigung an der Charité-Universitätsmedizin Berlin
- Ergebnisse der watch-protect-prevent-Studie
- Studie zu Dienstvereinbarungen gegen sexuelle Belästigung aus dem Archiv der Hans-Böckler-Stiftung