Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli, Berlin Comic: „Mehr als 2 Seiten“
Mit dem Comic „Mehr als 2 Seiten“ erzählen Schüler*innen des Campus Rütli die Geschichte ihrer Reise nach Israel und in die palästinensischen Gebiete im Rahmen einer Politik-AG. Nach Fertigstellung arbeiten Schüler*innen und Lehrer*innen mit dem Comic weiter. Durch seinen multiperspektivischen Ansatz wirkt der Comic vereinfachenden Deutungen des Konflikts und einseitigen Positionierungen entgegen.
- Schulform:
- Gemeinschaftsschule
- Handlungsfelder:
- Diskriminierung als Thema in AGs, Diskriminierungs als Thema im Unterricht, Empowermentorientierte Angebote an der Schule
- Angaben zum Träger des Praxisbeispiels:
- Die Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli ist eine Schule im Berliner Bezirk Neukölln mit knapp 1.000 Schüler*innen.
- Bundesland:
- Berlin
- Diskriminierungskategorie:
- Rassistische Zuschreibungen, Antisemitismus
- Durchführung:
- Der Comic entstand 2019/2020. Seither wird in verschiedenen Formaten mit dem Comic weitergearbeitet.
Kontakt
Mehmet Can, Lehrer E-Mail: mail@mehrals2seiten.de Website: Gemeinschaftsschule Campus Ruetli
Durchführende Organisation
Die Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli ist eine musikbetonte Schule von Klasse 1 bis 13 im gebundenen Ganztag. Die Schüler*innen können alle in Berlin möglichen Schulabschlüsse erwerben.
Getragen von dem Leitbild „Kein Kind, kein Jugendlicher geht verloren“ versucht sie einen Ort des Willkommenseins, der Vielfalt und Gemeinsamkeit zu gestalten. Sie versteht sich als Schule im Stadtteil und knüpft an die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen an.
Am Reflexionsgespräch Beteiligte
Am Reflexionsgespräch waren der durchführende Lehrer und eine Schülerin aus der AG beteiligt.
Ausgangslage und Motivation
In den letzten Jahren gab es immer wieder aufgeheizte Debatten über Antisemitismus unter Jugendlichen. In den Medien wurde dabei nicht selten ein Fokus auf migrantisch wahrgenommene Jugendliche gelegt – insbesondere in Berlin auf Jugendlichen aus Neukölln. Dabei wurden auch rassistische Bilder bedient und reproduziert.
Für eine Gruppe von Lehrkräften an der Schule waren diese Diskurse der Anlass, das Thema Israel-Palästina-Konflikt pädagogisch aufzugreifen. Sie wollten damit zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus und einem besseren Verständnis des „Nahostkonflikts“ beitragen.
Aus Diskussionen in einer Politik-AG entstand die Idee einer achttägigen Reise nach Israel/Palästina. Nach der Reise suchte das Projektteam gemeinsam mit den Schüler*innen nach pädagogischen Formen für eine Auseinandersetzung mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Sie wollten dabei vereinfachende Darstellungen vermeiden und gleichzeitig antisemitismus- und rassismuskritisch sein. Die Perspektive der Jugendlichen sollte im Mittelpunkt stehen. Auch die Biografien der Schüler*innen mit arabischen Familiengeschichten und/oder Fluchtbiografien sollten einen Platz finden. So entstand die Idee, einen Comic über die Reiseerfahrungen zu erstellen.
Maßnahmenbeschreibung
Die Reise
Die Reise der Politik-AG fand am Ende des Schuljahrs 2018/2019 statt. Beteiligt waren 15 Schüler*innen vorwiegend aus der 10. Jahrgangsstufe. Zur Vorbereitung der Reise wurde neben den wöchentlichen Terminen in der Politik-AG von den beteiligten Lehrer*innen unter anderem ein gemeinsames mehrtägiges Seminar durchgeführt. Dabei wurde offen über Vorurteile im Zusammenhang mit dem Israel-Palästina-Konflikt gesprochen. Für das Projektteam begann hier bereits die Auseinandersetzung mit der Frage, wie sie als Reisegruppe einen guten Umgang mit antisemitischen Stereotypen und Äußerungen in der Gruppe finden.
Während der Reise gab es zahlreiche Treffen mit Organisationen und auch Schüler*innen vor Ort – vor allem in Israel und zum Teil in den besetzten Gebieten. Ein Beispiel war ein Treffen mit einer „Elternorganisation“, in der sich israelische und palästinensische Eltern organisiert hatten, die Kinder infolge des Konflikts verloren hatten. Dabei wurde deutlich, dass es nicht nur Feindschaft gibt, sondern auch Freundschaften zwischen Israelis und Palästinenser*innen existieren. Diese Begegnung wurde für viele aus der Reisegruppe ein prägendes Erlebnis.
Das Erstellen des Comics
Nach der Reise wollten alle Beteiligten an dem Thema weiterarbeiten und ihre Erfahrungen so teilen, dass sich alle Schüler*innen der Schule darin wiedererkennen. Dafür fanden sie die Form eines Comics. Es sollte ein niedrigschwelliges Schulmaterial entstehen, das Schüler*innen tatsächlich auch lesen.
Der Prozess war über ein Jahr lang sehr (arbeits-)intensiv. Eine Förderung durch Drittmittel deckte den Aufwand bei Weitem nicht ab, sodass alle Beteiligten viel ehrenamtliche Arbeit investieren mussten. Zu Beginn war die gesamte Reisegruppe eingebunden, durch die Auswirkungen der Coronapandemie hat dann regelmäßig eine Kerngruppe mit circa drei Schüler*innen, der außerschulischen Partner*in, dem Illustrator und einem Lehrer an dem Comic gearbeitet.
Die Arbeit mit dem Comic
Die Schüler*innen haben bereits nach der Reise mit einem Video in anderen Klassen von ihren Erfahrungen berichtet. Nach der Veröffentlichung des Comics haben sie Kapitel aus dem Comic vor anderen Schüler*innen gelesen und sich dazu ausgetauscht. Auch interessierten Bürger*innen, Lehrkräften, Studierenden und anderen Multiplikator*innen wurde der Comic in vielen Veranstaltungen vorgestellt. Die Fragen von Schüler*innen und Erwachsenen gaben wiederum Anlass zu weiteren Auseinandersetzungen und Lernprozessen.
Verstetigung und Verankerung
Die Arbeit mit dem Comic ist eingebettet in eine langfristige Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus am Campus Rütli. Dies geschieht durch verschiedene Kursangebote, die in das schulinterne Curriculum übernommen wurden (zum Beispiel einen Wahlpflichtkurs).
Für die Reise gab es viel Unterstützung durch die Schulleitung.
Aktuell gibt es Pläne, das Projekt über die Entwicklung von weiteren Unterrichtsmaterialien und Erklärvideos auszubauen. Außerdem sollen weiterhin schulintern Workshops stattfinden, auf Nachfrage zudem an anderen Schulen. Der Comic wird auch bundesweit nachgefragt.
Positive Effekte aus Sicht der Akteur*innen
… auf die beteiligten Jugendlichen
Durch die Reise und die Begegnungen auf der Reise wurde für viele Jugendliche ein Perspektivwechsel möglich. Durch den Comic wurden die beteiligten Jugendlichen bestärkt, ihre Geschichten zu erzählen. Sie waren stolz, am Ende einen Comic verantwortet zu haben oder in einem Comic vorzukommen, der über Berlin hinaus Aufmerksamkeit erhalten hat.
… auf andere Jugendliche
Über das Medium Comic wurden aber auch andere Jugendliche erreicht – sowohl am Campus Rütli als auch weit darüber hinaus an anderen Schulen. So können in einem Comic die komplexen Themen des Nahostkonflikts niedrigschwellig und ansprechend aufbereitet werden.
Aus den Rückmeldungen wurde deutlich, dass sich auch andere Jugendliche, vor allem aber auch Jugendliche mit einer muslimischen Sozialisation mit den Protagonist*innen identifizieren konnten. Dies hat die Bereitschaft erhöht, sich offener mit den im Comic geschilderten Themen auseinanderzusetzen.
… auf die Schulkultur
Insgesamt ist der Eindruck des Projektteams, dass sich die Haltungen zum Nahostkonflikt in der Schüler*innenschaft verändert haben.
Das Thema ist heute an der Schule mit einer anderen „Selbstverständlichkeit“ besprechbar und zu einem Teil der Schulkultur geworden. Die Lehrpersonen und Schule als Institution werden als glaubwürdige Vermittler*innen einer biografisch und politisch bedeutsamen Auseinandersetzung erlebt.
Wie wichtig die Entstehung des Comics aus der Reiseerfahrung von Schüler*innen der Schule für diese Effekte ist, wird deutlich, wenn andere Schulen mit dem Comic arbeiten. Dort bezweifeln Schüler*innen, ob die Geschichte echt ist. Es fehlt der Austausch mit den Schüler*innen, die den Comic mitentwickelt haben, um ihre Erfahrungen zu teilen.
Gelingensfaktoren, Herausforderungen und Grenzen
Gelingensfaktoren
Die Methode Comic
Der Comic ist in einfacher(er) Sprache als viele Unterrichtsmaterialien geschrieben. Insbesondere zum israelisch-palästinensischen Konflikt gibt es – so die Erfahrung des Projektteams – wenig für diese Zielgruppe gut geeignetes Material. Über das Medium Comic werden Schüler*innen niedrigschwellig adressiert. Comics sind einfacher zu lesen und auch die Bilder können Inhalte transportieren. Dieses mediale Format funktioniert gut für Schüler*innen ab der 8. Klasse.
Entscheidend war der Zugang zum Thema über die eigenen Erfahrungen der Schüler*innen und die Übersetzung in die Bildsprache des Comics in der Kooperation mit einem im Genre versierten Künstler
Pädagogischer Ansatz
Die größte pädagogische Herausforderung schon bei der Reise war der Umgang mit den antisemitischen Haltungen mancher Schüler*innen. Hier hat es sich – so das Projektteam – bewährt, eine klare antisemitismuskritische Haltung einzunehmen, aber trotzdem zu versuchen, mit den Jugendlichen im Kontakt zu sein und ihre Familiengeschichten, Prägungen oder Ängste bei diesem Thema ernst zu nehmen. Ein Beispiel dafür war der dann gewählte Name „Jerusalem-AG“ als eine Art Kompromiss für die Bezeichnung der Israel-Reise-Gruppe. Das Reiseziel war auch tatsächlich der Großraum Jerusalem. Die Weigerung mancher Schüler*innen, das bereiste Land „Israel“ zu nennen, wurde aber dennoch immer wieder auf der Fahrt aufgegriffen. Aus dem Projektteam heraus wurde gleichzeitig daran festgehalten, dass es eine Reise nach Israel ist – auch in den Gesprächen mit den Eltern.
Pädagogisch war es herausfordernd, in der Gruppe einen geschützten Rahmen zu halten und gleichzeitig auf antisemitische Stimmen zu reagieren. Den Weg, den die Lehrpersonen des Projektteams hier gewählt haben, beschreiben sie als „Aufklärung und Gesprächsangebot“: nicht strafend auf die betreffenden Schüler*innen „losgehen“, sondern im Kontakt bleiben und inhaltlich argumentieren.
Dies war auch deswegen möglich, weil es keinen „eindeutig menschenverachtenden, islamistischen Antisemitismus“ in der Gruppe gab. Es wurde aber auch deutlich, wie wichtig die Aufklärung auch im Umgang mit antisemitischer Propaganda ist.
Kooperation
Unterstützt wurde das Projekt über den gesamten Zeitraum hinweg von einer außerschulischen Pädagogin. Die Vielfalt im Team ermöglichte es, sensibel und multiperspektivisch zu der komplexen Thematik zu arbeiten und die aktive und offene Beteiligung der Schüler*innen durch außerschulische Formate und offene Zugänge zu erhöhen. Für die Erstellung des Comics waren zudem der Austausch und Kontakt zu Regisseur*innen und anderen kreativen Akteur*innen überaus gewinnbringend.
Für die Realisierung des Projekts war zudem die Unterstützung durch verschiedene Stiftungen entscheidend.
Herausforderungen und Grenzen
Gefahr der Kulturalisierung
Das Projektteam sah sehr bewusst die Gefahr, dass der Comic als ein Produkt angesehen wird, das nur oder vor allem migrantische, muslimisch sozialisierte Jugendliche adressiert, da sie die Hauptprotagonist*innen sind. Da in dem Comic auch die Vorbehalte und antisemitischen Bilder einzelner Jugendlicher aufgegriffen werden, war zu befürchten, dass dies dann so gelesen wird, als würde das so für alle muslimisch sozialisierten Jugendlichen zutreffen. Diese Gefahr der Kulturalisierung wurde daher proaktiv in den Workshops aufgegriffen.
Es war von Beginn an allen Beteiligten bewusst, dass die Idee einer Reise mit Neuköllner Schüler*innen nach Israel/Palästina genauso wie danach der Comic unter einer besonderen Beobachtung der Öffentlichkeit steht.
Wie ist so ein Projekt umzusetzen, ohne sich ständig inhaltlich angreifbar zu machen? Damit verbunden war die Sorge, dass die beteiligten Schüler*innen beschädigt werden.
Auch wenn diese Sorgen am Ende nicht so bestätigt wurden – das Feedback war sehr positiv mit nur wenigen konstruktiv kritischen Stimmen –, hat diese Angst die Beteiligten immer wieder auch gelähmt.
Weitere Maßnahmen entwickeln
Der Comic kann ein Einstieg in die Auseinandersetzung mit Israel, dem Konflikt, Antisemitismus und Rassismus sein. Für eine umfassende diskriminierungskritische Auseinandersetzung bedarf es weiterer Maßnahmen, die einzelne Diskriminierungsformen gezielter ansprechen. Ideen gibt es viele:
- Schüler*innen als Peers noch stärker in anderen Klassen einbinden
- Fortführung eines Wahlpflichtkurses als festes Angebot im 9. und 10. Jahrgang, der mit außerschulischen Partner*innen angeboten wird
- Studientag für die Lehrer*innen zum Thema Diskriminierung, um einen im Alltag integrierten angemessenen pädagogischen Umgang mit dem Thema zu finden
Durch dieses Projekt wird sichtbar, dass eine solch wichtige Arbeit nur durch das deutlich über den „normalen“ Auftrag hinausgehende Engagement einzelner Lehrkräfte möglich ist. Und auch diese stoßen an Grenzen. Es fehlt an der Zeit, um diese Arbeit an der Schule wirklich tief zu verankern und einen langfristigen Ansatz zu ermöglichen.
Tipps für die Übertragung
Ganz allgemein war eine Erfahrung der beteiligten Lehrkräfte, wie wichtig es ist, sich abseits der regulären Stundentafel Zeit für Schüler*innen zu nehmen. Dies kann Workshops am Wochenende beinhalten, aber auch Angebote an den Rändern des Tages, um notwendigen Debatten Raum zu geben.
Eine andere Erkenntnis war, dass es sich lohnt, sich vor schwierigen und potenziell konflikthaften Themen nicht wegzuducken, sondern damit pädagogisch zu arbeiten.
In der Arbeit mit emotionalen Themen, bei denen Schüler*innen sich selbst als Opfer eines Konflikts sehen und daraus auch ausgrenzende Haltungen zu anderen Gruppen entwickeln, ist es wichtig, sensibel mit den Meinungen von anderen umzugehen. Konkret heißt das, nicht auf jede Äußerung direkt scharf zu reagieren, sondern damit pädagogisch zu arbeiten und darauf zu vertrauen, dass sich dadurch etwas bewegt.
Wenn Einzelne so ein Projekt anstoßen, sollten sie von Beginn an mit den Kolleg*innen ins Gespräch gehen. Es braucht für prekäre Themen ein Mandat aus dem Kollegium. Dies ist insbesondere auch wichtig, wenn es darum geht, eine langfristige Auseinandersetzung mit diesen Themen in die Schulkultur einzubauen.
