Don-Bosco-Schule Lippstadt Meine Schuhe gegen Ausgrenzung
Die Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung aus Deutschland und Ungarn setzten sich bei einem Projekttreffen in Budapest mit der Frage „Wo beginnt Ausgrenzung für mich?“ auseinander. Im Anschluss an die Reise zeigten sie mit kreativen Mitteln in der Öffentlichkeit, was Diskriminierung für Menschen mit Behinderungen bedeutet.
- Schulform:
- Förderschule
- Handlungsfelder:
- Thematisierung von Diskriminierung im Unterricht, Arbeit an geschichtlichen Themen, Kooperationen mit außerschulischen Partner*innen
- Bundesland:
- Nordrhein-Westfalen
- Diskriminierungskategorie:
- Behinderung, Antisemitismus
- Durchführung:
- seit 2015
Kontakt
Wolfgang Janus, Schulleiter E-Mail: wolfgang.janus@dbs-lippstadt.de Emese Stikel, Lehrerin E-Mail: emese.stikel@dbs-lippstadt.de Don-Bosco-Schule - Förderschule des Kreises Soest mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Telefon: 02941 941-40 Website: Don-Bosco-Schule
Durchführende Organisation
Die Don-Bosco-Schule ist eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Derzeit besuchen 190 Schüler*innen im Alter von sechs bis 20 Jahren diese Ganztagsschule. Bis zu 13 Schüler*innen pro Klasse werden jeweils von zwei Lehrkräften unterrichtet. Die Don-Bosco-Schule ist die erste Förderschule mit diesem Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen, die zur Europaschule erklärt wurde. Als Europaschulen werden in manchen Bundesländern Schulen bezeichnet, die gewisse Standards der interkulturellen Zusammenarbeit und der methodischen Innovation erfüllen.
Am Reflexionsgespräch Beteiligte
Das Reflexionsgespräch wurde mit Emese Stikel, der am Austausch beteiligten Lehrerin, sowie dem Schulleiter Wolfgang Janus geführt.
Ausgangslage und Motivation
Als Fördereinrichtung macht die Don-Bosco-Schule oft die Erfahrung, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten ausschließlich über ihren Unterstützungsbedarf definiert werden. Es besteht die Gefahr, dass sie durch Hilfeleistungen weiter unselbstständig gemacht werden. Diese Wahrnehmung wollte die Schule bewusst aufbrechen. Die Schüler*innen sollten den Raum bekommen, ihre Bedürfnisse und Interessen formulieren und auch ihre Ausgrenzungserfahrungen durch neue Ausdrucksformen darstellen zu können. Damit möchte die Schule auch die Gesellschaft für eine andere Wahrnehmung von Menschen mit geistiger Behinderung sensibilisieren. So entstand 2015 die Idee einer Reise nach Ungarn und in der Folge viele weitere, kleine Projekte.
Maßnahmenbeschreibung
Die Reise
Europaschulen pflegen einen regen Austausch mit anderen europäischen Schulen, so auch die Don-Bosco-Schule. Sie nutzte die Kontakte einer aus Ungarn stammenden Lehrerin und plante eine Reise zur Partnerschule in Budapest.
Während der Vorbereitung der Reise gab es einen Vorfall. Ein Schüler rief an der Schule „Heil Hitler“, vermutlich ohne zu wissen, was das bedeutet. Dies hat die Schule zum Anlass genommen, sich bereits vor der Reise intensiv mit den Themen Nationalsozialismus und Judentum zu beschäftigen.
Im Rahmen der Reise standen die Schüler*innen vor dem Holocaust-Mahnmal in Budapest. Es besteht aus Eisenschuhen zum Gedenken an Personen, die aus Verzweiflung in die Donau gesprungen sind. Für die begleitende Lehrerin war die Menschenkette der Schüler*innen um das Mahnmal ein besonderes Erlebnis. Im Anschluss an diesen Besuch konnten die Schüler*innen auch Zeitzeug*innen interviewen.
Aus diesen Erfahrungen entwickelte sich noch in Ungarn die Fragestellung „Wo beginnt Ausgrenzung für mich?“. Die Schüler*innen benannten Erfahrungen der Ausgrenzung wie die Tatsache, eine Förderschule besuchen zu müssen, oder erinnerten sich an ablehnende Aussagen im Freizeit- und Sportbereich. Mit Theaterpädagog*innen und Schauspieler*innen arbeiteten sie bereits auf der Reise und später in Deutschland daran, die erlebte Diskriminierung in Standbildern darzustellen. Die Situationen hätten die Schüler*innen vorher noch nicht als Diskriminierung benennen können, aber die Verletzungen waren ihnen bewusst.
Nach der Reise
Nach der Reise sahen Schüler*innen in den Medien wieder Bilder von Schuhen. Dieses Mal gehörten sie Protestierenden während des Arabischen Frühlings, die sie auf dem Tahrir-Platz in Kairo hinterlassen hatten, als die Demonstration verboten worden war. So kam es zu der Idee, eine Aktion in der Heimatstadt Lippstadt durchzuführen. Unter dem Motto „Meine Schuhe gegen Ausgrenzung“ setzten sich die Schüler*innen auf Grundlage ihrer eigenen Ausgrenzungserfahrungen mit gesellschaftlicher Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen im Nationalsozialismus und in der Gegenwart auseinander. Sie gestalteten Schuhkartons sowie Standbilder. Mit den eigenen Schuhen und Bildern von ihrem Besuch in Budapest sollte ein Zeichen gegen Diskriminierung gesetzt werden.
Sie forderten Passant*innen in der Innenstadt auf, symbolisch ihren Schuhabdruck auf dem Pflaster zu hinterlassen und darin ihre Meinung zum Thema zu formulieren.
Verstetigung und Verankerung
Die Reise selbst war ein einmaliges Projekt. Die Arbeit an gesellschaftsrelevanten Themen ist aber im Leitbild und im Schulprogramm verankert.
Positive Effekte aus Sicht der Akteur*innen
Stärkung der Schüler*innen
Die Lehrerin, die die Reise nach Ungarn organisiert hat, beschreibt, wie die Interviews mit Zeitzeug*innen, die Arbeit an den Standbildern, aber auch die Aktion in Lippstadt die Schüler*innen in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt haben. Nach solchen Aktionen sei stets spürbar, wie sie reflektierter mit ihren eigenen Erfahrungen umgehen können, und sich zudem ermutigt fühlen, sich dazu zu äußern.
Die Schüler*innen der Don-Bosco-Schule kennen die Abwertung durch den Spruch „Wenn du etwas nicht kannst, dann geh zu Don Bosco“. Wenn die Schüler*innen dann mit diesen Abwertungserfahrungen an der Schule ankommen, brauchen sie eine gewisse Zeit, bis sie merken, dass sie dort wertschätzend behandelt werden, ihnen etwas zugetraut wird und sie ihre Potenziale entfalten können. Es gehört vor diesem Hintergrund viel Mut dazu, mit diesen Themen in die Öffentlichkeit zu gehen und sich zu äußern.
Diskriminierung ist als Begriff für die Schüler*innen der Schule komplex. Durch die Aktionen gelang es, ihn so einfach wie möglich zu fassen. Er bedeutet, „nicht dazuzugehören“. Für die Schüler*innen war es sehr empowernd, benennen zu können, was sie erleben.
Stärkung der Eltern
Die Elternschaft der Schule ist sehr heterogen. Es gibt sehr aktive und engagierte Eltern, die auch das beschriebene Projekt mit seinen Aktionen als Stärkung erlebt haben und sich hierdurch noch mehr als Teil der Schule verstehen.
Die Wirkung auf das Kollegium und die Schule
Über die Reise und die Aktionen hat die Thematisierung von Diskriminierung auch im Kollegium eine größere Akzeptanz gefunden. Dies wirkt sich auf verschiedenen Ebenen aus:
- An der Schule gibt es nun eine Schüler*innenvertretung.
- Diskriminierung wird in Stufenkonferenzen wie auch der kollegialen Fallberatung behandelt.
- Im Alltag mit den Schüler*innen gehen die Lehrkräfte kompetenter mit Situationen um, in denen Diskriminierung eine Rolle spielt. Sie greifen aber auch ein, wenn Schüler*innen sich diskriminierend äußern oder verhalten.
Gelingensfaktoren, Herausforderungen und Grenzen
Gelingensfaktoren
Die Partizipation der Schüler*innen
Um Schüler*innen in die Planung der Aktivitäten einzubeziehen, braucht es eine hohe Flexibilität. Die Schüler*innen bringen Themen wie die Bilder der Schuhe mit, die dann spontan aufgegriffen und weiterbearbeitet werden. Es geht dann darum, ins Tun zu kommen. Bei der Aktion in der Innenstadt wären die Schüler*innen überfordert gewesen, den Passant*innen ihr Anliegen zu erklären. Aber sie konnten sie auffordern, in die gemalten Umrisse der Schuhe ihre Meinung zum Thema hineinzuschreiben.
Situatives Reagieren statt starres Festhalten am Lehrplan
Es würde in der Schule keinen Sinn machen, das Thema Diskriminierung fest im Lehrplan zu verankern. Die Lehrer*innen haben dann die Sorge, dass die Lerngruppe, die sie gerade unterrichten, (noch) nicht dazu bereit ist oder nicht die Verstehensleistung mitbringt. Diskriminierung lässt sich besser aus dem Alltag heraus thematisieren, wenn sich in der Schule etwas ereignet oder die Schüler*innen Themen von zu Hause mitbringen.
Der Mut, über „Euthanasie“ zu sprechen
Manche Förderschulen scheuen die Thematik „Euthanasie“, weil sie für die Schüler*innen nicht verständlich und zu belastend sei. Diese Position wurde gegenüber der Schule auch von einer Einrichtung der Lehrer*innenausbildung vertreten. Der Schulleiter vertritt jedoch folgenden Ansatz: Das Recht auf Teilhabe bedeutet auch ein Recht auf Wissen. Die Don-Bosco-Schule behandelt „Euthanasie“ anhand der Biografie einer geistig behinderten Frau, die im „Euthanasie“-Programm umgekommen ist. Das Buch liegt in Leichter Sprache vor.
Transfer auf andere Diskriminierungskategorien
Die alltägliche Arbeit mit Schüler*innen, die massiv von Diskriminierung und Ausschluss betroffen sind, führt im Kollegium zu einem Verständnis von Diskriminierung als einem Phänomen, das mitten in der Gesellschaft und nicht am rechten Rand zu verorten ist. Dieses Verständnis von Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen lässt sich dann auch auf andere von Diskriminierung betroffene Gruppen übertragen.
Herausforderungen und Grenzen
Individuelle Zugänge
Zu vielen Themen gibt es für den Unterricht mit Schüler*innen an Förderschulen kein angemessenes Unterrichtsmaterial. So hat die Schule für die Auseinandersetzung mit dem Judentum ein Lehrbuch in Leichter Sprache entwickelt. Dies ist für eine Schule aus Kapazitätsgründen nur begrenzt möglich. Dies auch deswegen, weil die Bandbreite der Schüler*innenschaft groß ist. Es gibt Schüler*innen, die nicht aktiv sprechen, aber anders kommunizieren können. Es gibt Schüler*innen, die Dinge nicht so durchdenken können wie andere. Für all diese Schüler*innen gilt es einen individuellen Zugang zu finden. Dafür braucht es Mut, Neues auszuprobieren.
Förderung und Ausgrenzung
Die Arbeit an einer Förderschule steckt immer in dem Dilemma, dass eine Förderschule ein exklusiver Ort ist, der für Inklusion eintritt. Für die Kinder, der Don-Bosco-Schule wäre an vielen anderen Schulen eine Teilhabe nur teilweise möglich und zudem erneut mit Ausgrenzungserfahrungen verbunden.
Ein Beispiel dafür war die Teilnahme einer Sportgruppe der Schule an den Deutschen Meisterschaften für Kinder mit Behinderungen. Hier erlebten die Schüler*innen einerseits eine stärkende Erfahrung in der Gruppe, andererseits erlebten sie als Teilnehmende einer Sonderveranstaltung die Nichtzugehörigkeit zum regulären Sportbetrieb.
Tipps für die Übertragung
Förderschulen müssen Teilhabe organisieren
Der Leiter der Don-Bosco-Schule gibt allen Förderschulen mit auf den Weg, dass diese nicht nur Orte des Wohlfühlens und der Geborgenheit sein sollten. Förderschulen müssten sich auch öffentlich für die Belange ihrer Schüler*innen einsetzen und sie stark machen für die Welt, in der sie leben.
Immer wieder berichten Kolleg*innen von Menschen in ihrem Umfeld, die die Auslandsfahrten mit den Schüler*innen infrage stellen.
Egal ob die Schüler*innen in Ungarn oder in Litauen waren oder mit einer Gruppe Auschwitz besucht haben, sie erleben, dass sie das Gleiche machen wie Menschen ohne Behinderung. Sie machen Schulreisen, wie sie für ihre Geschwister normal sind. Für sie ist es eine besondere Erfahrung.
