Lagebericht „Diskriminierung in Deutschland“: Beauftragte fordern Regierung zum Handeln auf 10.09.2024
Erstmals legen acht Beauftragte einen gemeinsamen Bericht zu Diskriminierung in Deutschland vor. Sie fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf, die Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungs-gesetzes (AGG) zügig umzusetzen, um Menschen in Deutschland besser vor Diskriminierung zu schützen.
- Mehr als 20.000 Fälle von 2021 bis 2023 bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet
- Beauftragte bemängeln unzureichendes Antidiskriminierungsgesetz und fordern die im Koalitionsvertrag angekündigte AGG-Reform von der Bundesregierung ein
Am Arbeitsplatz sexuell belästigt, bei der Wohnungssuche rassistisch beleidigt, bei der Jobsuche wegen einer Behinderung aussortiert – das deutsche Antidiskriminierungsrecht hilft Menschen in vielen Fällen von Diskriminierung nicht. Das geht aus dem neuen Lagebericht zu Diskriminierung hervor, den die Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeinsam mit den zuständigen Beauftragten alle vier Jahre dem Deutschen Bundestag vorlegt.
„Der Bericht zeigt, dass Menschen besser vor Diskriminierung geschützt werden müssen. Denn das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hilft ihnen oft nicht, auch wenn sie eindeutig diskriminiert worden sind.
Die Diskriminierungserfahrungen in Deutschland belasten Betroffene und gefährden unsere Demokratie und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft“
, erklären die Beauftragten.
Im Berichtszeitraum von 2021 bis 2023 wendeten sich rund 20.600 Ratsuchende an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Sie berichteten von Diskriminierungen wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder wegen der sexuellen Identität. Besonders häufig meldeten sich Betroffene, die rassistisch oder antisemitisch diskriminiert wurden. Die Zahl der Beratungsanfragen steigt kontinuierlich an. Doch längst nicht alle Fälle werden gemeldet. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher. In repräsentativen Untersuchungen berichten je nach Umfrage 16 bis 30 Prozent der Bevölkerung von Diskriminierungen.
Fortschritt statt Stillstand: AGG jetzt reformieren
Die Antidiskriminierungspolitik in Deutschland bleibt deutlich hinter EU-Standards zurück. Die Beauftragten kritisieren den unzureichenden Schutz und fordern, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) endlich zu reformieren, so wie es im Koalitionsvertrag vereinbart ist.
Die Beauftragten fordern zeitnah unter anderem diese zentralen Verbesserungen:
1. Menschen vor Diskriminierungen durch staatliche Stellen schützen
Derzeit sind Bürger*innen nicht überall vor Diskriminierung geschützt. Werden sie etwa auf Ämtern, bei der Polizei oder durch die Justiz benachteiligt, können sie sich mit dem AGG nicht dagegen wehren – anders als im Supermarkt oder Restaurant. Das wird der Vorbildfunktion des Staates nicht gerecht. Um auch hier einen effektiven Schutz für Betroffene zu gewährleisten, sollte der Anwendungsbereich des AGG auch staatliches Handeln umfassen.
2. Schutzlücken schließen – Rassismus und Antisemitismus entgegenwirken
Das AGG schützt zudem nicht, wenn Menschen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Dadurch entstehen Schutzlücken und begünstigen rassistisch, antisemitisch und antiziganistisch motivierte Benachteiligungen. Um unter anderem israelbezogene antisemitische Diskriminierungen wirksamer bekämpfen zu können, sollte das Merkmal „Staatsangehörigkeit“ unter den Schutz des AGG fallen.
3. Barrieren abbauen und Diskriminierung durch Künstliche Intelligenz vorbeugen
Die Beauftragten fordern die Bundesregierung auf, Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen sicherzustellen. Sie müssen endlich für alle Menschen zugänglich sein. Eine Chance, Barrieren zu überwinden, bietet dabei die Digitalisierung. Sie birgt jedoch auch neue Diskriminierungsrisiken. Besonders Menschen mit Behinderungen und ältere Personen benötigen Diskriminierungsschutz im digitalen Raum. Denn Algorithmen und KI-Systeme treffen in vielen Bereichen automatisierte Entscheidungen, die Diskriminierung begünstigen können. Ein modernes Antidiskriminierungsrecht muss deshalb auch vor den Risiken digitaler Diskriminierung schützen.
Ferda Ataman, Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung:
„Unser Land steckt in einer Diskriminierungskrise. Millionen von Menschen haben Angst um ihre Zukunft. Angesichts der Wahlerfolge für Rechtsextreme ist es wichtiger denn je, Menschen effektiv vor Hass und Ausgrenzung zu schützen. Es ist Arbeitsverweigerung, wenn die Bundesregierung das nicht tut.“
Reem Alabali-Radovan, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus:
„Wer Diskriminierung und Rassismus erfährt, muss qualifizierte Unterstützung finden, schnell und unkompliziert. Doch schon daran scheitert es oft – 22 Prozent der Menschen in Deutschland haben selber schon Rassismus erfahren, auf 920.000 Einwohner*innen kommt aber durchschnittlich nur eine Vollzeitberater*innenstelle. Das muss sich ändern. Durch die community-basierte Beratung bauen wir gemeinsam mit den von Rassismus betroffenen Communities Beratungsstrukturen auf – niedrigschwellig, wohnortnah und entsprechend kompetent im Umgang mit verschiedenen Formen von Rassismus.“
Dr. Mehmet Daimagüler, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland:
„Immer wieder berichten Sinti* und Roma* von Diskriminierung durch Behörden. Besonders problematisch sind Fälle von zum Teil krass rechtswidrigem Verhalten von Polizisten. Wir können nicht glaubwürdig gegen Rassismus und Antiziganismus vorgehen, solange Beamtinnen und Beamte sich nicht an Recht und Gesetz halten. Betroffene müssen in die Lage versetzt werden, sich effektiv gegen Unrecht zu wehren. Deswegen muss das AGG auf das Handeln staatlicher Stellen ausgedehnt werden.“
Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen:
„Im Koalitionsvertrag gibt es mit der geplanten Novelle des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) endlich den erkennbaren Willen, Barrieren für Menschen mit Behinderungen zu beseitigen - nun ist dafür höchste Zeit! Der Gesetzgeber muss jetzt verbindliche und einklagbare Normen zur Barrierefreiheit schaffen und die staatliche Durchsetzung regeln. Dies gilt für barrierefreien und bezahlbaren Wohnraum, den Arbeitsmarkt und insbesondere für das Gesundheitswesen!“
Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus:
„Jüdinnen und Juden werden in Deutschland auf die wohl grundsätzlichste Art diskriminiert: Ihre Sicherheit ist im öffentlichen Raum in Gefahr, sodass ihnen eine als jüdisch erkennbare, sichere Teilnahme am gesellschaftlichen Leben häufig verwehrt bleibt. Von einer schon zuvor prekären Situation hat sich die Lage mit dem Terrorangriff gegen Israel am 7. Oktober 2023 noch drastisch verschlechtert. Als Bundesregierung, aber besonders als gesamte Gesellschaft, müssen wir gegen jede Form antisemitischer Diskriminierung und gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorgehen, um unseren demokratischen Werten gerecht zu werden.“
Sven Lehmann, Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt (Queer-Beauftragter):
„Trotz vieler Fortschritte bleiben LSBTIQ* eine verwundbare Gruppe, gegen die gerade in Krisenzeiten Ressentiments geschürt werden. Diskriminierung und Gewalt gehören leider nach wie vor zu ihrem Alltag. Diese Angriffe sind oft eingebettet in rechtspopulistische und religiös-fundamentalistische Ideologien. Das Engagement gegen LSBTIQ*-Feindlichkeit ist daher eine politische und gesellschaftliche Daueraufgabe.“
Natalie Pawlik, Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten:
„Der Bericht zeigt, dass die Bekämpfung von Diskriminierungen eine Daueraufgabe ist. Wir dürfen nicht einfach akzeptieren, dass der tief in der Breite der Gesellschaft verwurzelte Antiziganismus Menschen in ihrem Alltag bedroht und ihnen Chancen nimmt. Beunruhigend ist auch, dass (Spät)Aussiedler*innen zunehmend mit Vorurteilen und falschen Zuschreibungen konfrontiert werden, was in hohem Maße an der mangelnden Kenntnis der besonderen Geschichte dieser Gruppe liegt.“