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Rede der Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung Ferda Ataman anlässlich des 31. Jahrestags des rassistischen Brandanschlags in Solingen und in Gedenken an Mevlüde Genç am 29. Mai 2024 in Solingen 29.05.2024 | Redner*in: Ferda Ataman

Liebe Familie Genç,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Tim Kurzbach,
und Herr Generalkonsul Ali Ihsan Izbul,
liebe Gäste,

„Der Tod meiner Kinder soll uns dafür öffnen, Freunde zu sein", sagte Mevlüde Genç. Sie hat das gesagt, nachdem Neonazis ihr Haus angezündet haben.

Sie hat es gesagt, nachdem Flammen Gürsün İnce, Hatice Genç, Hülya Genç, Saime Genç und Gülüstan Öztürk – in den Tod rissen.

Mehr Größe kann ein Mensch in einem Satz kaum zum Ausdruck bringen.

Mevlüde und Sie, Herr Genç, verloren in den Flammen zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte.

Das ist 31 Jahre her.

Und es tut mir von ganzem Herzen leid, dass wir hier heute zum 30. Mal daran erinnern müssen.

Ihre Familie hat unaussprechliches Grauen erlebt.

Mevlüde Genç wurde Zeugin der schlimmsten Auswüchse von Rassismus und hat sich trotzdem nicht verleiten lassen, zu hassen. Sie hat die Hand ausgestreckt. Sie, die gläubige Muslimin, hat Deutschland ein Freundschaftsangebot gemacht.

Trotz allem.

Mevlüde Genç war eine deutsche Friedensbotschafterin.

Sie mahnte uns zeitlebens, zu stärken, was verbindet. Sie wollte, dass wir uns als Menschen begegnen.

Zu Recht hat sie 1996 das Bundesverdienstkreuz erhalten.

Mevlüde Genç lehrte uns etwas, das wir gerade jetzt so sehr brauchen: Vergebung und Toleranz.

Sie fühlte Schmerz, aber verbreitete Hoffnung.

Wenn wir uns heute als vielfältige Gesellschaft fragen: Wer wollen wir sein? Wie soll unsere Zukunft aussehen?

Dann kann uns Mevlüde Genç Vorbild und Wegweiserin sein.

***

Der 29. Mai 1993 – er war eine Zäsur.

Nicht nur für Familie Genç und viele Menschen in Solingen.

Er war auch eine Zäsur für alle Migrant*innen und ihre Nachkommen in Deutschland, die wussten, dass der Brandanschlag auch sie meinte.

Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass Rassisten in Deutschland Menschen töteten.

In den frühen Neunzigern kam es immer wieder zu pogromartigen Übergriffen auf Migrant*innen.

Ein Todesopfer: Der 28-jährige Amadeu António Kiowa, ein Vertragsarbeiter aus Angola, der von mindestens 50 Leuten durch Eberswalde gejagt und zusammengeschlagen wurde, während die Polizei, die da war, lange nicht eingriff.

Im Osten folgten noch die brutalen Übergriffe von Hoyerswerda 1991, Rostock-Lichtenhagen 1992 oder die tödliche "Hetzjagd von Guben" 1999

In Westdeutschland dann die Brandanschläge in Mölln (1992) und Solingen (1993).

In den Jahren nach dem Mauerfall hat meine Mutter oft geweint.

Am Anfang noch aus Freude über die Wiedervereinigung. Aber dann aus blankem Entsetzen über den brutalen Rassismus.

Migrant*innen wurden gejagt, geprügelt, angezündet, erschossen – einfach nur, weil sie Migrant*innen waren.

Als uns damals die Nachricht vom rassistischen Anschlag in Solingen erreichte, sagte meine Mutter: „bizi yakiyorlar", „Sie verbrennen uns".

***

Ich war 13 Jahre alt, als ich lernte, dass es in Deutschland Menschen gibt, die Leute wie mich töten wollen.

Der 29. Mai 1993 in Solingen war ein kollektives Trauma für Migrant*innen.

In den Wochen danach besorgten sich viele türkeistämmige Menschen Strickleitern und legten sie unters Bett.

Andere stellten sich Eimer mit Wasser ins Schlafzimmer und nahmen ihre Kinder zu sich ins Bett, falls im Schlaf etwas passieren sollte.

Denn wie das mit Terroranschlägen so ist, die Botschaft kommt unmissverständlich an: Verschwindet oder wir zünden euch an!

In Solingen war es diesmal anders.

In den ersten Tagen nach dem rassistischen Anschlag schlug bei vielen die Angst in Wut um.

Mevlüde Genç schritt ein.

Sie rief zur Mäßigung auf und verhinderte, dass die Gewalt eskalierte.

***

Ich frage mich in diesen Tagen:

Hat Deutschland, haben wir etwas gelernt aus Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen?

Hat Deutschland die richtigen Lehren gezogen?

Und meine ehrliche Antwort dürfte nicht gefallen.

Die rechtsextremen Gewalttaten und tödlichen Angriffe auf Migrant*innen in den Neunziger Jahren kamen nicht einfach so.

In der Politik wurde gegen „Asylanten“ gehetzt, in zahlreichen, auch seriösen Medien wurden Ängste geschürt, im Alltag Ressentiments gepflegt.

Der Spiegel titelte im September 1991: "Flüchtlinge – Aussiedler – Asylanten. Ansturm der Armen ".

Und heute?

Anfang dieses Jahres – noch vor der Correctiv-Recherche über rechtsextreme Vertreibungspläne – war Rückführung von Migrant*innen DAS politische Thema Nummer eins.

„Mehr Abschiebungen“ wurden in fast allen Parteien zur zentralen politischen Losung erklärt.

Während Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken und in der Wüste verdursten, überbieten sich manche auch jetzt noch mit Forderungen nach entwürdigenden Abschreckungsmethoden.

Und wieder werden Menschen mit „Migrationshintergrund" und Muslime zur Hauptursache für Probleme ausgemacht.

  • Antisemitismus? Von Ausländern importiert.
  • Probleme im Bildungsbereich?

Die Ausländer seien schuld.

  • Probleme im Gesundheitswesen?

Weil zu viele Ausländer.

  • Probleme mit Rechtsextremen?

Hätten wir mehr Abschiebungen, würden weniger Leute Rassisten wählen. 

Das ist beschämend und geschichtsvergessen. Solche Äußerungen sind brandgefährlich und setzen einen Ton.

Sie schüren Ablehnung und Hass - und das bekommen alle zu spüren, ganz egal, ob Geflüchtete oder seit Generationen hier.

Das war damals so.

Das ist heute so.

Ich wünsche mir, dass wir in Deutschland endlich lernen, Debatten über Migration zu führen, die Asylsuchende, Muslim*innen und Migrant*innen nicht entmenschlichen.

Debatten, die Rassismus nicht befeuern.

Aber leider muss ich sagen, das gelingt uns noch nicht.

In der vergangenen Woche hat das Bundeskriminalamt die aktuellen Zahlen zu politisch motivierten Straftaten in Deutschland veröffentlicht.

Und sie sind nichts geringeres als ein Alarmzeichen:

  • Die Straftaten gegen Geflüchtete sind vergangenes Jahr um 75 Prozent gestiegen.
  • Die Angriffe auf Asylunterkünfte haben um rund 50 Prozent zugenommen.
  • Antisemitische Straftaten haben sich fast verdoppelt.
  • Antimuslimische Straftaten haben sich laut Bundesinnenministerium mehr als verdoppelt und sind um 140 Prozent gestiegen.

Die Zahlen sind so hoch wie nie!

Insgesamt wurden 2023 rund 29.000 rechtsextreme Fälle gezählt. Das sind

23 Prozent mehr als im Jahr davor. Das heißt: In Deutschland finden jeden Tag zehn rassistische Straftaten statt! Zehn. Jeden Tag.

Und da ist der alltägliche Rassismus noch nicht mitgezählt: Dass Menschen schlecht behandelt oder benachteiligt werden, bei der Arbeitssuche, bei der Wohnungssuche, bei Alltagsgeschäften.

***

Artikel 1 unseres Grundgesetzes wurde in diesen Tagen oft genannt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Aber die Würde des Menschen – sie wird angetastet in Deutschland.

Tag für Tag.

Aber Rassismus und Diskriminierung ist kein individuelles Problem, sondern ein demokratisches.

Das Versprechen von Gleichheit ist das Fundament unserer freiheitlich demokratischen Gesellschaft.

Unsere Demokratie ist immer nur so stark wie unser Umgang mit Minderheiten, den Schwächsten und Verletzlichsten.

Wenn Menschen Hass ausgesetzt sind, sie ungerechtfertigt benachteiligt werden, macht das unsere Demokratie porös.

Die rechtsextremen Antidemokraten wissen das. Deshalb setzten sie gezielt auf Diskriminierung.

Das wissen wir spätestens seit der Correctiv-Recherche: Sie haben nicht nur über Vertreibungspläne gesprochen, sondern auch davon, Migranten das Leben hier schwer zu machen, sie zu diskriminieren. 

Die Faschisten und ihre Ideologie haben überlebt. Heute sitzen sie in deutschen Parlamenten und können ihre Menschenverachtung in Talkshows und auf TikTok verbreiten.

Die Ideologie vereint die Neofaschisten mit den Neonazis von damals, die Mevlüde Genç und ihre Familie nicht als Nachbarn in ihrer Stadt akzeptieren wollten.

***

„Man wollte, dass Sie sich von Deutschland entfremdet und das Land verlässt.

Doch sie blieb und beantragte bewusst die deutsche Staatsangehörigkeit", haben Sie, Özlem Genç, letztes Jahr in Ihrer Rede über Ihre Großmutter erzählt.

Mevlüde Genç hatte entschieden, zu bleiben.

Und ich finde, auch damit kann sie heute vielen ein Beispiel sein, die darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen. Dass Faschisten politisch Land gewinnen, ist noch kein Grund, zu gehen.

Denn dann würden sie genau das erreichen, was sie wollen.

Mevlüde Genç wollte stattdessen Gerechtigkeit für ihre Familie und Konsequenzen für die Täter.

Sie engagierte sich politisch und setzte sich ein. Gleichzeitig tat sie alles, um nicht zu verallgemeinern.

Sie wurde nicht müde zu betonen, dass bei weitem nicht alle Deutschen rassistisch denken.

Immer und immer wieder erzählte sie Geschichten von liebevollen Nachbarinnen und Nachbarn, von Menschen, die geholfen und mitgefühlt haben.

Mevlüde Genç verstand, dass es darauf ankommt, dass man Menschen als Menschen sieht.

Sie hat sich damit dem Kern aller menschenfeindlichen Ideologien entgegengestellt.

Das war nicht naiv – das war eine Form von Widerstand.

Sie nahm das Unaussprechliche an, in dem Wissen, dass das Geschehene unumkehrbar ist.

Sie setzte Hoffnung in die Zukunft.

Hoffnung verleugnet die Verzweiflung und den Schmerz nicht. Sie erwächst daraus.

Aufgabe des Staates ist es aber, nicht zu hoffen, sondern zu handeln.

Wir müssen hinsehen, Rassismus da erkennen, wo er passiert.

Mevlüde Genç und ihre Familie wurden als Türk*innen - aber auch als Muslime angegriffen.

Umso wichtiger ist es, dass antimuslimischer Rassismus erkannt und benannt wird.

Und etwas dagegen unternommen wird, dass muslimenfeindliche Einstellungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft ragen.

Viele Menschen erleben antimuslimischen Rassismus jeden Tag.

Sie werden abgewertet und bedroht, haben in diesem Land nicht die gleichen Chancen.

Antimuslimischer Rassismus vergiftet unser Zusammenleben und findet trotzdem wenig politische Beachtung.

Das muss sich dringend ändern.

Deshalb bin ich der Meinung, wir brauchen neben dem Antisemitismus- und Antiziganismus-Beauftragten auch einen Beauftragten gegen antimuslimischen Rassismus.

Das ist überfällig.

***

Als mich die Familie Genç vor ein paar Wochen gefragt hat, ob ich an diesem Gedenktag eine Rede halten kann, habe ich sofort zugesagt. Weil Solingen auch Teil meiner Geschichte ist.

Die Generation von Mevlüde Genç und meinen Eltern sind keine Gäste in dem Haus, das Deutschland heißt.

Sie haben das Haus mit aufgebaut.

Es ist auch ihr Haus.

Erinnern bedeutet, das auch anerkennen.

Mevlüde Genç wusste das.

Es war ihr Wunsch, dass die Erinnerung an das schreckliche Verbrechen auch nach ihrem Tod aufrechterhalten wird.

Sie wünschte sich, dass an der Unteren Wernerstraße, da wo sie damals mit ihrer Familie lebte, eine Begegnungs- und Erinnerungsstätte entsteht.

Ich bin froh, dass die Stadt Solingen diesem Wunsch Gehör schenkt.

Liebe Familie Genç,

nach all dem Leid, das sie erlebt haben, hätten Sie verzweifeln können.

Sie hätten sich bitter von dieser Gesellschaft abwenden können – wer hätte es Ihnen verübelt?

Aber dazu haben sie viel zu viel von Mevlüde gelernt.

Sie setzten sich bis heute für die Erinnerung ein, gegen Rassismus und für ein besseres Zusammenleben.

Und damit setzen Sie sich für ein lebenswertes Deutschland ein.

Ich verneige mich vor Ihnen für diese Kraft und für diesen Einsatz.

Von ganzem Herzen Danke dafür!